Heilung oder Symptom? Zum Zusammenhang von Politik, Lyrik und Subjekt

(Anm. M.C.: Mittlerweile ist auf der Website des holländischen Onlinemagazins Samplekanon ein Artikel von mir auf Englisch erschienen, der einige der theoretischen und konzeptuellen Grundannahmen der folgenden Argumentation ausführlicher diskutiert und einordnet)

Linus‘ Position: Politik-Lyrik-Subjekt

Es ist eine ganze Weile her, seitdem ich Linus‘ Text zum Thema (https://gdreizehn.com/politik-und-lyrik/) das erste Mal gelesen habe. Ich dachte, ich warte auf etwas Zeit, meine Antwort zu formulieren. Im Gegensatz zu Tristan bin ich nicht so begeistert davon, aber das sollte diejenigen ja nicht überraschen, die unsere Blogdiskussionen kennen. Mich interessiert an Linus‘ Text vor allem die Kategorienbildung, also die begriffliche Matrix in der das Problem Politik und Lyrik eingeordnet und diskutiert wird. Diese Matrix verdeutlicht sich bereits in der Hauptthese des Textes: Ziel (von Kunst und von Politik) ist die Erweiterung der persönlichen Handlungsfähigkeit, verstanden als sozial vermittelte Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen.

Die Diskussion entwickelt sich also um die Trias: Politik – Subjekt – Lyrik. Wie stehen diese Begriffe zueinander? Politik bedeutet im Text einerseits eine Form der Mobilisierung, andererseits eine Form von Suchvorgängen, in denen die einzelnen (nach Krisen, etc.) nach Wegen suchen, sich gesellschaftliche Ressourcen anzueignen. Politik zielt hier also auf eine Veränderung der Bedingungen, innerhalb derer das Leben der Subjekte produziert wird. Die politische Enteignungserfahrung der Subjekte ist zwar kollektiv und real, allerdings erfolgt die Erkenntnis/Bearbeitung im individuellen und seinem Leiden. Der Prozess der Erkenntnis läuft also über das Individuum, dessen Steigerung der persönlichen Handlungsfähigkeit wiederum die kollektive Aneignung gesellschaftlicher Formen ermöglicht, und zwar dadurch, dass der Gesellschaft die Befugnis entrissen wird, für einen zu sprechen, indem sich das Subjekt die Sprache wieder aneignet, die ihm genommen wurde, indem es sich befreit von der höheren legitimierenden Instanz, usw.. Diese Aneignungsprozesse und einiges mehr werden als „Formen der Macht“ definiert. Lyrik als Praxis ermöglicht nun eine Erfahrung der Gesellschaft. Diese Erfahrung und Neuanordnung darf jedoch nicht als Anrufung passiver Objekte verstanden werden (Lyriker redet zum Volk/Klasse/etc.), sondern muss die Eigenheit, d.h. die Eigenwilligkeit der Objekte/Individuen mit einbeziehen (darum deine Polemik gegen die passive Landschaft, die zu Symbolen degradierten Objekte).

Was ist das Verhältnis zwischen der Trias Politik-Lyrik-Subjekt? Die Lyrik ist darum ein wichtiger Ort, weil Sprache, definiert als das praktische gesellschaftliche Bewusstsein, einen Zugang zum Gesellschaftlichen erlaubt. Allerdings funktionieren Politik und Lyrik nicht gleich und können daher nicht einfach aufeinander bezogen werden: das „politische“ Gedicht ist im besten Fall Pamphlet, in jedem Falle aber eine Affirmation der eigenen Position also solche und eine Wiederholung politischer Praxis (allerdings auf eine gewisse Art ohne die eigentliche Praxis). Wegen dieser mimetischen Nähe ist das politische Gedichte langweilig. Das Subjekt bzw. der/die Autor_in hängen mit der Lyrik zusammen, weil es darin seinen primären Freiheitsraum erkennt bzw. erkämpft, den es erst darin in einen kollektiven Zusammenhang stellt (indem die Lesenden es rezipieren und sich wiederum aneignen). Das Subjekt (Autor_in, Lesende) ist ebenfalls Schnittstelle der Politik, weil es dasjenige ist, welches ausgelöst durch sein Leiden und vermittelt über seine Suchbewegung eine alternative Praxis generiert. Es geht hierbei qua Definition um eine Erweiterung der subjektiven Handlungsfähigkeit. Dem Subjekt, würde ich also zusammenfassen, kommt in Linus‘ Text eine entscheidende Position zu. Es ist das Erkennende, es ist das Befreiende und Befreite und es ist dasjenige, welches die Sprache umformt.

Eine kritische Perspektive auf diese theoretischen Reflektionen zeigt sich immer dann, wenn die ungleiche Verteilung der Möglichkeiten zur Sprache kommen, an diesem lyrischen Diskurs überhaupt teilzuhaben. Eine spezifische Form der Lyrik ist, wie der Text richtig anmerkt, eben immer auch eine Form der Distinktion für eine spezifische Gruppe, die sich in der lyrischen Praxis erzeugt. Der Text löst diese Problematik nicht, sondern lässt sie als Fragestellung offen bzw. antwortet darauf mit der Perspektive notwendiger gesellschaftlichen, d.h. politischer Umwälzungen. Es bleibt also die Vision einer Lyrik als einer avantgardistischen Praxis, deren Mehrwert im Aufscheinen der eigentlich notwendigen politischen Umwälzungsprozesse liegt.

Gegenposition: Lyrik als Symptom

Ich denke, für meine Kritik an obigem Konzept muss ich vor der Diskussion der Trias Politik-Lyrik-Subjekt erst einen weiteren Begriff einführen: das Begehren. Das Begehren ist jene Ebene, auf der sich das Gesellschaftliche dem Subjekt einschreibt. Worum es mir bei meiner Antwort also letztlich gehen wird, ist zu zeigen, dass jegliche künstlerische Praxis, egal wie radikal, nicht seiner Rückbindung an das subjektive Begehren und seiner Verortung im gesellschaftlich-historischen Zusammenhang entkommt, welches sich in der Entscheidung des/der Autor_in eben so und nicht anders zu schreiben wie auch in der Rezeption durch die Lesenden manifestiert.

Ich würde gerne mit der Behauptung einsteigen, dass es eben jene Abwesenheit des Begehrens als Figur der Vermittlung zwischen Gesellschaft und Subjekt ist, die Linus‘ Konzeption überhaupt möglich macht. Das Ergebnis ist eine Konzentration auf das Subjekt als Agens politischer oder künstlerischer Betätigung. Da das gesellschaftlich und historisch spezifische Begehren selbst in Linus‘ Ansatz nicht mitreflektiert wird, entsteht nun aber eine Disharmonie bzw. eine Leerstelle zwischen dem gesellschaftskritischen und dem subjektaffirmierenden Ansatz von Linus‘ Text: Warum betreibe ich Politik und Lyrik auf die eine und nicht auf die andere Weise? Warum finde ich etwas wichtig, warum etwas anderes langweilig, warum etwas schlecht und uninteressant? Warum kritisiere ich den sprachlichen Zusammenhang und nicht einen anderen? Warum möchte ich mich in meiner lyrischen Praxis mit Möglichkeitsräumen/Potentialität auseinandersetzen und nicht mit Geschichte (oder umgekehrt)? Diese Fragen fallen letztlich, will man nicht auf eine Metaphysik des Wahren zurückgreifen, auf das subjektive Begehren selbst zurück und können durch die Krisen, das Leiden, etc. nicht ausreichen in ihrer Spezifizität erklärt werden (auch das Leiden muss erst Sprache/Praxis werden, bevor es politische wirksam wird). Es gilt diesen Zusammenhang zu reflektieren, wenn es sich um Lyrik als kritische Praxis handelt.

Das Begriffspaar Politik/Kritik, die in Linus‘ Text noch aufeinander liegen, sollen nun also auseinander gezogen werden. Politik agiert qua Definition in einem Immanenzfeld, einer sprachlichen Struktur und in Anknüpfung an bestehende kategoriale Anordnungen in der Gegenwart. Als solche ist Politik immer strategisch und basiert auf dem kategorialen Rahmen als einer Bedingung, die eigene Handlungsfähigkeit zu realisieren. Diese Annahme der Kommunizierbarkeit politischer Praxis ist insofern zutreffend, als dass man den kollektiven und kollektivierenden Effekt, den Linus der politischen Praxis zuspricht, ebenfalls zur Grundlage von Politik erklären will (ich tue das!). Kritik auf der anderen Seite ist eine Praxis, die sich mit der Genese der Möglichkeitsbedingung von Politik im Sprachlichen, Objekt-Subjekt Verhältnissen etc. auseinandersetzt. Das Kritik in einem zweiten Schritt dadurch wieder auf Politik beziehbar wird, ist an sich keine Wiederlegung der Ausdifferenzierung von Politik und Kritik, sondern ein Beleg dafür, warum es sich lohnt, beide Dinge auseinander zu halten. Dadurch wird nämlich erst deutlich, auf welche weise die Erweiterung des subjektiven Handlungsraumes sich immer schon auf einer Ebene abspielt, deren Grundlagen selbst Gegenstand einer kritischen Untersuchung werden kann und: sollte. Erfolgt diese Reflektion des eigenen Begehrens, Leidens, usw. nicht, wird das Subjekt und sein Leiden onthologisiert, d.h. affirmiert in seiner Authentizität.

Was hier nun völlig aus dem Fokus gerät, ist der geschichtliche Charakter, den dieses Leiden zu jeder Zeit annimmt bzw. überhaupt annehmen kann. Da das politische Subjekt bei Linus immer schon im Vorhinein definiert worden ist in seinem Bedürfnis nach subjektiver Selbstaufwertung und einer Steigerung subjektiver Handlungsfähigkeit, bleibt nun überhaupt kein Raum für eine Reflektion der historischen Verortung dieses Bedürfnisses. Damit ist Linus‘ Subjekt-Konzeption beides: zu abstrakt und nicht konkret genug. Zu abstrakt, weil das Bedürfnis nach Affirmation der eigenen Freiheitsräume (hier bin ich Mensch, hier darf ich sein) immer schon historisch formuliert wird (also: eine Praxis, die Zukunft statt Geschichte fokussiert, lässt sich für Westeuropa, insbesondere für Deutschland kritisch reflektieren und historisch einordnen). Zu konkret ist diese Definition von Politik über das Subjekt, weil sie das Subjekt konzeptionell zu scharf stellt. Es ist ja eine Platitude deren Wiederholung kaum lohnt, dass das Subjekt und sein Leiden sich nur sehr begrenzt für eine Umwälzung der Umstände eignen. Es ist eben nicht so, dass die Instanz, die einem auf die Schulter klopft, außerhalb meiner selbst läge. Ich bin diese Instanz. Und ich sehe dieses der kritischen Praxis nicht, von der Linus schreibt. Selbst im Leiden vermag ich keine Authentizität zu erkennen. Es überzeugt mich nicht als Basis für eine Praxis, die ein qualitativ Anderes für eine Gesellschaft ermöglicht.

Es wäre also notwendig, den Zusammenhang von Subjekt und Macht in die andere Richtung zu denken: wie wird das Subjekt durch Macht erzeugt und wie trägt es noch in die entlegenste lyrische Praxis diese Machtstrukturen als konkretes Begehren nach einer bestimmten Praxis und keiner anderen? Es genügt nicht, eine Praxis zu verfolgen, in dem die Objekte aus ihrer alltäglichen Fixierung gelöst und fraglich werden. Als Konsequenz meiner Überlegungen ist der Raum, der im Zuge dieser Auflösung entstehen kann ebenso wie die Praxis der Auflösung selbst bereits in ihrer Anlage eine Machtwirkung, die sich im eigenen Begehren nach jener Praxis, im eigenen Wissen um relevantes Sprachmaterial, etc. manifestiert (Popp sagt nicht umsonst, dass bestimmte Worte wie Rampe, Asche, usw. eben nicht für die eigene schreibende Praxis zur Verfügung stehen; das ist keine wahre Aussage, sondern Popp sagt was Popp begehrt; und diese Begehren gilt nicht nur allgemein für die Formulierung von Leiden, sie ist auch gesellschaftlich-historisch sehr konkret bestimmbar).

Am Ende seines Textes formuliert Linus eine Vision der politischen Umwälzung, deren Ziel die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit verstanden „als autonome verfügung aller über die materiellen und kulturellen mittel“ wäre. In diesem Zustand wäre die Lyrik, die Linus vorschwebt, nur noch eine Spezialform der universalen subjektiven Autonomie, und damit letztendlich überflüssig geworden. Ich denke, es ist genau dieser Zustand der postrevolutionären Idylle, von dem aus Linus seine Perspektive auf Politik, Lyrik und Subjekt formuliert. Ich habe versucht zu argumentieren, dass eine Strategie zur Erweiterung der subjektiven Handlungsfähigkeit immer auf den gesellschaftlich-historischen Zusammenhang zurückbezogen werden muss, innerhalb dessen sie formuliert wird (und nicht auf den zukünftigen Zustand, den sie erreichen will). Will Lyrik eine kritische Praxis sein, muss sie noch das Leiden selbst in seiner Geschichtlichkeit in Frage stellen, da sie sonst Gefahr läuft, das darin immer schon enthaltene gesellschaftlich Verdrängte permanent zu reproduzieren. Bis dies nicht geschieht, ist Lyrik ein Symptom und keine Heilung.

10 Antworten zu Heilung oder Symptom? Zum Zusammenhang von Politik, Lyrik und Subjekt

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  2. Jan Kuhlbrodt schreibt:

    auch hier scheint mir der bergriff lyrik nicht angebracht, wenn, stellt dein text einen sysrhematichen bezug der kunst überhaupt her. im kontext der kunst sind die gattungen m.e. nur technisch unterschieden. währet ihr ein malerkollektiv würdet ihr mit den gleichen worten über malerei sprechen können. die lyrik nimmt also im systhem der künste einen spezifischen platz ein, der aus ihrem material und ihren verfahrensweisen resultiert. als solcher hat er eine geschichte, die die geschichte künstlerischer techniken ist. etwas anderes ist es, wenn wir vom einzelnen gedicht sprechen. das hat einen gesellschaftlichen platz, führt gewissermaßen ein gesellschaftliches leben. übt einflss aus und wird beeinflusst, auf die und durch die produktions und rezwptionsbedingungen. das einzelne gedicht kann man quasi soziologisch untersuchen, die gattung lyrik nicht.
    (mir ist heute nach einmischen)

  3. Max Czollek schreibt:

    Jan, find ich gut, hab ich mich auch schon gefragt. ich denke, die Diskussion einer Subjektposition bzw. der Vermittlung zwischen Kunst-Politik-Subjekt gilt hier allgemein. Die Lyrik ist nur insofern spezifisch, da sie, wie du sagst, mit Sprache als einem bestimmten Material arbeitet. In diesem Sinne ist die Reflektion bezogen auf dieses bestimmte Objekt. Und nicht zu vergessen: Lyrik ist der Ort, mit dem ich mich befasse. Über Malerei könnte ich nicht reden. (vielleicht wären die Diskussionen dann aber eben doch eine andere; und zwar gerade wegen der spezifischen Tradition, in der die Lyrik in Deutschland steht – in ihrer Verbindung mit einer Entstehung deutscher Identität, ihrer Funktion innerhalb von Diskriminierungsstrukturen, ihrer Verwendung für Propaganda – und die ihre Gegenwart auf eine konkrete und spezifische Weise bestimmt)

    • Jan Kuhlbrodt schreibt:

      vielleicht können wir besser über malerei reden, weil wir keine maler sind. wäre ein gedanke. zumindest anders. unterschwellig versuchen wir doch immer unserm tun einen sinn zu verlehen oder wenigstens unterzuschieben.
      aber es gibt keinen sinn der lyrik im allgemeinen, sonst wären ja mein gedicht und das horst wessel lied ein und das selbe. aber sie ähneln sich nur, weil sie ähnliche materialien verwenden, sie ähneln sich wie ein spieß einem raumschiff. und so unterschiedlich ist auch ihr zweck, (das wessellied ist übrigens der spieß)
      und jetzt gibt es abstufungen der ähnlichkeit und formen der differenz. was es nicht gibt ist identität. weder formal noch funktional, kunst hat keine aufgabe, aber wenn sie gelingt, mag etwas einer gelingenden gesellschaft aufscheinen, in der die menschen nur noch da ist, um zu sein, und nicht mehr, um die reihen zu schließen. aber auch der letzte satz von mir macht mir bauchschmerzen. lieber wäre mir, auch diese last sei von der kunst genommen. vielleicht ist das ja die utopie, dass sie an sich frei ist. dann wäre das horst wessel lied auch keine kunst, sondern (ketzerisch gesagt) nur noch lyrik.

      (du merkst, ich schwanke)

  4. Max Czollek schreibt:

    Ja, das frage ich mich auch manchmal. Und ich hab auch keine Antwort darauf. Allerdings mag ich die Frage nach der Ähnlichkeit zwischen meinen Texten und dem Horst Wessel Lied. Ich denke, die Frage ist fünf mal besser als andere Fragen, die ich mir auch in Bezug auf meine Lyrik stellen könne. Und sieben mal interessanter. (deshalb mag ich auch deine Frage an mich, ob ich ein Heimatdichter bin, so gern). Ich würde darauf jetzt auch keine vorschnelle Antwort geben. Ich weiß es nicht genau. Und ich glaube irgendwie, genau das ist wichtig. Das Schwanken. Diese Frage.

    • Jan Kuhlbrodt schreibt:

      aber ähnlichkeiten sind schon spannend. nehmen wir den begriff aneignung, den linus gern benutzt. ursprünglich, sagen wir im marxschen sinne ein kritischer begriff, weil im ökonomischen raum angesiedelt. er machte die trännung von matereller produktion und aneignung des produktes (ebenfalls) materiell deutlich. aus dieser differenz leitete marx fast alle wiedersprüche der kapitalistischen produktionsweise ab. deren aneignung, das heißt, der subsumption eines gegenstandes unter ein bedürfnis, sei es produktiv, sei es kunsumptiv, eine eigentums/produktionsverhältnis vorausgeht, dass sich im aneignungsprozess selbst reproduziert. also produktion ist immer schon aneignung. was kann also „lyrische praxis“ als aneignung bedeuten, wenn nicht die sprachliche reproduktion bestehender verhältnisse, also die „wiederkehr des immer gleichen“. auch hier sollten wir mit ähnlichkeiten operieren. differenzen. dem misslingen der aneignung. aneignung heißt letztlich beherrschung. aber das künstlerische produkt ist dann frei, wenn es sich der beherrschung entzieht, eine logik entwickelt, die selbst den produzenten überrascht. (und das macht ein gedicht, wenn es gelingt. am ende einer aneignung steht, was ihr vorausging: eigentum. ein gelungenes gedicht ist das gegenteil)

  5. Linus Westheuser schreibt:

    danke für die antwort, max. vielleicht schaffe ich es irgendwann nochmal eine replik zu schreiben, aber das wird wohl eine weile dauern. die beobachtung am ende, dass der quasi-utopische fluchtpunkt meine überlegungen motiviert – und nicht etwa eine systematisches erfassen des in diesem moment vorhandenen – ist denke ich richtig und auch die interessante unterscheidung von politik und kritik etwas, worüber ich nochmal nachdenken müsste. eine bessere fassung meines gedankens würde wohl hinzufügen, dass aneignung und autonomisierung als bewegungen zu diesem fluchtpunkt auf taktik und kritik angewiesen sind und damit auf eine möglichst realistische und vollständige einschätzung der lage, der werkzeuge, der felder, der beziehungen, der symptome usw. also in erster linie ihrer geschichte, wie du ja auch ankreidest. an dieser stelle sehe ich deine kritik eines abstrakten oder ahistorischen utopismus also durchaus als mögliche ergänzung dessen was ich sagen wollte.

    anders ist es aber bei deiner kritik meiner ’subjekt-konzeption‘, hier muss ich dir kurz widersprechen: eine solche konzeption liest du in meinen text hinein, von ihr ist an keiner stelle die rede. worum es explizit geht ist die p r a x i s der lyrik als schreibende und lesende aneignung der mittel des lesens und schreibens, bzw. der politik als kollektiver aneignung der produktionsbedingungen des lebens, welche als praktische autonomisierungsprozesse gewisse ähnlichkeiten zueinander haben, aber deshalb nicht aufeinander reduziert werden können. von dieser praxis, die eine tätige objektivierung oder ein ‚erscheinen‘, eine materialisierung in überindividuellen strukturen ist, leitet sich dann die art von handlungsfähigkeit ab, in der sich autonome (und vor allem auch sich gegenseitig als autonom anerkennende) subjekte entstehen können. dass sie dies vorher nicht tun, ist eben eine folge ihrer strukturellen enteignung von den kulturellen und materiellen bedingungen unter denen ihr leben und ihre subjektivität hervorgebracht wird (und nebenbei auch der grund, weshalb die meisten gedichte tatsächlich nur symptome sind, gerade die politischen, und weshalb auch die beste experimentelle lyrik in meinen augen keine heilung ist, sondern allenfalls eine kurz simulierte gesundheit).

    das heißt aber, dass die subjekte weder im ’normalzustand‘, noch in ihrer mobilisierten form als sich politisch oder lyrisch autonomisierende in irgendeiner weise außerhalb ihrer (selbstverständlich gesellschaftlichen) praxis bestimmt sind. die lyrischen subjekte, als dichterinnen, leser und textelemente erscheinen als teil einer lyrischen praxis in einem lyrischen feld – ein klitzekleines familiäres feldchen für die ersten beiden, ein weites für die dritten. (dass wir diese diskussion führen, macht uns zum beispiel auch gerade zu subjekten dieses feldes, und die tatsache, dass die allermeisten leute eine solche diskussion und ihren gegenstand für völlig überflüssig halten, zeigt seine engen grenzen.) die praxis schafft sich ihre subjekte, die experimentelle lyrische praxis, verstanden als aneignung, hat in meinen augen das potenzial, in ihrem relativ kleinen rahmen autonome(re) subjekte zu schaffen. darin – und nur darin, d.h. nicht in ihren themen, techniken oder ansprüchen – liegt ihre gemeinsamkeit und ihr wert für die politische befreiung, die ebenfalls eine aneignung ist, nur in viel größerem rahmen. die vorstellung der ‚authentischen‘ subjeke und ihrer ’subjektiven‘ befreiung, die du mir zuschreibst und einer gesellschaftlichen einbettung gegenüberstellst, geht also an meinem text ganz vorbei.

    zu allem weiteren und deiner eigenen position dann hoffentlich ein anderes mal. vielleicht kommen ja auch noch ein paar andere stimmen, andere weisen zu reden usw., dazu. ich fände das schön.

  6. Charlotte Warsen schreibt:

    Meine inneren Notizen und vor allem Fragen zu eurer Diskussion stapeln sich inzwischen in meinem Kopf, deshalb lade ich sie nun lieber hier ab. Ich werde später vielleicht nochmal was längeres zu Lyrik und Politik schreiben (in dieser Reihenfolge: von einer Idee von Lyrik oder einem einzigen Gedicht ausgehend und im Vollrausch meiner subjektiven Befangenheit auf einen Begriff von Politik kommend). Also hier nur einige zerstückelte Notizen zu euren bisherigen Gedanken:

    Wie schon in den anderen Kommentaren bemerkt, stellen sowohl Linus‘ als auch Max‘ Text die Frage nach dem Verhältnis Politik und Lyrik in Hinblick auf Letztere eher unverbindlich, eher allgemein als Frage nach einer auf jeweils unterschiedliche Art definierten Politik (als Aneignung, Vermehrung der Seinsweisen und Handlungsfähigkeiten bei Linus, bei Max als zunächst vor allem der (Selbst)Kritik / der Vergangenheitsreflexion bedürftige und ihr zeitlich immer nachgeschaltete Form „kollektiver Praxis“) und der Kunst im Allgemeinen (als institutionell geschnürtem Bündel sehr vielgestaltiger, durchmischter Tätigkeitsformen und Objekte, die einen politischen Sonderforschungsbereich bilden?). Dabei ist in Linus‘ Fall die Frage nach einer Emanzipation „nach vorne“ im Vordergrund, während es Max um die geschichtliche Bedingtheit u.a. eines solchen politischen „Begehrens“ geht. Wobei die jeweiligen Vokabulare (Politik, Aneignung, Felder, Handlungsfähigkeit / Macht, Begehren, Kritik, Symptom) aus ganz bestimmten Ecken zu kommen scheinen, die Selbstkritik allerdings nicht soweit gehen mag, sie offen zu legen.

    Während die utopische politische Theorie außerdem ihre schmutzige Vergangenheit verschweigt und keine kritischen Umwege macht, verschweigt die Kritik trotz vermeintlicher Enthaltung, dass auch sie insgeheim Pläne hat und von einem Unbehagen (im Falle der Erfahrungen anderer) oder einem Leiden (im Falle der eigenen Erfahrung) geweckt wurde, das ihr nicht eigen war und sich vermutlich nicht zuallererst in geisteswissenschaftlichen Texten (in denen Begriffe wie Subjekt, Begehren, Macht eine Rolle spielen) artikuliert hat. Bevor eine solche Kritik (andere) sensibel machen will für die historische Herkunft und Kontingenz ihrer Überzeugungen und Erfahrungen, muss es einen selbst empfundenen Schmerz, eine Demütigung, Empfindlichkeit oder Irritation als Anlass gegeben haben und eine vorbegriffliche Artikulation dessen, woran Kritik geübt werden soll. Wenn alle Emanzipationsbewegungen der Moderne ihrer eigenen Verstricktheit in die Systeme der Macht zunächst bis in alle Verästelungen nachgespürt und ihrer kritischen Durchdringung geharrt hätten, wäre wohl niemand je auf die Straße gegangen. Menschen entkommen ihren sozialen und geschichtlichen Prägungen glücklicherweise auch ohne sie vorher diskursiv erschlossen zu haben, weil sie immer schon mehr sind und waren als diese. Die Kritik wird nie pünktlich fertig, die Utopie kommt immer zu spät, aber „der Mensch übersteigt unendlich den Menschen“ (Pascale).

    Akademisch-kritische Intelligenz spielt weder eine unwichtige noch eine herausragende Rolle in politischen Prozessen, denn neben der Einsicht in Genealogien und Kontingenzen der Macht sind ihr nicht naturgemäß auch geschichtliche Sensibilität, Innehalten angesichts der Ermordeten und Einfühlung eigen.

    Max hat aber in meinen Augen Recht, wenn er bemerkt, dass Politik und Befreiung oft zu geschichtsleer gedacht werden. Es ist nicht immer Zufall, wenn gerade weiße, männliche, mitteleuropäische Akademiker den Ästhetizismus hochhalten. Oder die Kinder des Kapitalismus ein unbefangenes Verhältnis zum Kommunismus pflegen. Da vielen politischen Theorien ein utopisches Streben (wenn nicht gerade ein unverhohlenes Bedürfnis nach „Heilung“) eingeschrieben ist, finde ich die Idee der Kritik als Emanzipation in die Vergangenheit und als Verzicht auf schnellen Trost sehr notwendig. Viele zeitgenössische Theorien machen demgegenüber eher die Gegenwart stark: Politik als ein (in sich gültiges) Ereignis, das die herrschende (Wahrnehmungs)Ordnung aussetzt und das sich nicht einfach gesamtgesellschaftlich weiterverwursten und verstetigen lässt, sondern sich immer wieder neue sinnliche Formen und Bewegungen suchen muss (Rancière), Politik nicht als mögliche Heilung sondern als Streit (Mouffe) etc.

    Wie ebenfalls schon bemerkt wurde, ist bei den Vorstellungen von Politik und Kritik, wie sie hier beschrieben sind, Lyrik von anderen Kunstformen als spezifische Tätigkeit nicht klar unterschieden. Bei Linus scheint aber durch, dass im Gegensatz zum eingängigen Befehl die Lyrik eine aufgeraute Sprache darstellt, eher spröde und vielstrahlig als auf Vereindeutigung zielend. Außerdem ist sie „tätige Objektivierung“, „Erscheinen“, „Materialisierung in überindividualisierten Strukturen.“ Ich bin nicht sicher, ob ich verstanden habe, was mit tätiger Objektivierung gemeint ist, aber alle drei Merkmale zeugen von dem Glauben an die Eigenlogik des Sprachmaterials und des Schreibens, in dessen Prozess etwas zur Erscheinung kommen kann und erfahren wird, was sonst versiegelt bliebe, was nicht zu vernehmen wäre, was sich, im Falle der Lyrik, nicht in gerade Aussagesätze / in eine schlüssige Erzählung / in einen historischen Abriss bequemen kann. Und was auch für diejenigen, die schreiben, nicht absehbar war und über sie hinaus geht. Was Jan Kuhlbrodt schon beschrieben hat als das, was sich der Beherrschung entzieht. Das lyrische Schreiben entkommt, ab und zu, unserer individuellen Beschränktheit, ohne damit gleich ein unbewusster Wurmfortsatz der „Macht“ zu werden. (Leben = u.a. Selbsterschaffung druch Sprache / Lyrik = Selbsterschaffung durch eine bessere Sprache / bessere Selbsterschaffung = bessere Selbsts? uahrgh)

    Max hingegen fragt sich zunächst, inwiefern bei einer derartigen Zusammenbringung von Politik und Lyrik nicht der Wunsch die Eltern des Gedankens sind. Wir schreiben Lyrik und verstehen uns als politisch? Da muss es doch eine Verbindung geben…wir sind deutsch und dichten und denken gerne gen Zukunft? Kein Wunder. Lyrik als kritische Praxis würde in seinen Augen das gesellschaftlich Verdrängte ans Tageslicht holen müssen, hätte also eine ausgeweitete Therapiefunktion. Allerdings lässt sich gesellschaftlich Verdrängtes ja oft mit einer Sprache ans Licht holen, die eben nicht mit dieser hehren Mission unterwegs ist, sondern asozial und apathisch umherzieht und ihrer Selbstreflexion nur mal durch Zufall des Nachts begegnet. Der Vorteil einer vagabundierenden Sprache wäre immerhin, dass sie nicht in Begriffen oder Substantiven bereits „Vorliegendes“ benennt, sondern Denken und Erfahrung oder die Unzugänglichkeit / Unvereinbarkeit von Erfahrungen in Bild und Ton, Geräusch und Rythmus durch alle Ebenen des Sprachlichen pumpt und erzeugt. An bestimmten Substantiven den Verzicht zu üben, damit ist es sicher nicht getan. Aber auch nicht damit, sich bestimmter Themen bewusst und kritisch anzunehmen. Nistet das Politische der Lyrik sich nicht in diesen Unterschied ein? Und ist es nicht selbst Symptom, der Lyrik eine sprachlich ähnliche Metareflexion wie den Schreibenden selbst abzuverlangen oder ihr andererseits nur die Pflasterfunktion auf einem Marsch Richtung große Gesundheit zuzugestehen? Lyrik leistungsorientiert?

    Sollte Lyrik die Wunden vermehren, Empfindlichkeit streuen, Vereindeutigung / Vereinnahmung durch äußere Zwecke verhindern? Sollten wir daher unsere utopischen und kritischen Ansprüche an sie eher runterfahren und aus (gerade politisch) guten Gründen auf dem Selbstzweck der Kunst köcheln (das gibt es ja sogar manchmal fast bei Brecht: wenn wir ein Gedicht über den Regen lesen, hat sich gesellschaftlich vermutlich nichts getan, aber vielleicht sind wir ein wenig empfindsamere Menschen geworden / oder bei Hilde Domin: das Gedicht als Ort / als Moment der Freiheit, das uns mit der Frische unserer Empfindungen verbindet)?

    Welche Formen der Kritik an Macht und Sprache, welche Aneignungen und Handlungsfähigkeiten werden nur durch Lyrik möglich und vermehrt? Welche Sprechweisen, Bilder, Fluchtwege, Unsicherheiten, Einzigartigkeit, Verwandlungen, Formen der Feier und Trauer entstehen (kommen überhaupt erst in die Welt) durch Lyrik? Und sind sie eher Formen von Vereinzelungen, Verkapselungen und Eigentümlichkeiten zu verstehen, als Widerstand gegen Vermassung und Marktgeschrei? Oder eher Formen von Subjektivierungsweisen, die ein politisches Subjekt erschaffen (das einzelne Individuen übersteigt)? Oder Kollektivierung durch Verkapselung und umgekehrt? Können auf kleinstem Raum (auf den winzigkleinsten Feldern) nicht die intensivsten Sprachen entstehen, die ihre Feldchen auf allen erdenklichen Wegen verlassen? Und brauchen diese Möglichkeiten jeweils eine eigene politische Theorie?

    Inwiefern sind diese Formen schon (von der Vergangenheit, von einer Herrschaftssprache) angetastet und korrumpiert / inwiefern übersteigen sie diese, greifen sie an? Welche außerlyrischen Geschehnisse der Ohnmacht und der Freiheit (auch der Vergangenheit), die unzugänglich scheinen oder schlicht unwahrnehmbar sind, werden durch Lyrik ansprechbar / wahrnehmbar? Müssen wir den lyrischen Seismographen wieder aus dem Keller holen?

    Soll Lyrik heilen und Risse kitten oder die Wunden zeigen und klaffen lassen? Soll Lyrik glücklich machen? Soll Lyrik böse sein? Können wir uns sensibler dichten? Und wer soll durch wen sensibler gedichtet werden?

    Wie politisch ist ein millionenfach ungelesenes Gedicht? Hat ein ungelesenes Gedicht genug politische Wirkmacht, wenn es auch nur einer Schreibenden zu einer Verwandlung verhilft? Und ist Lyrik wirklich diese beschissene Mischung aus prekär und elitär?

    Welche Filter waren genau am Werk, wenn jemand (in Deutschland) Lyrik sagt? Politische (nicht das Horst-Wessel-Lied), qualitative (nicht das Horst-Wessel-Lied), institutionelle..

    Wie unterscheiden sich zb lyrisch-mentale Bilder von den materiell-sinnlichen der Malerei in Hinblick auf kritische / emanzipatorische Wirkung? Was unterscheidet das lyrische Schreiben als Arbeit, als Prozess, Tätigkeits- und Lebensform von anderen künstlerischen Praktiken? Was bedeutet Lyrik als Kunst im Unterschied zu anderen (lyrischen) Äußerungen?

    Wie geht es mit dem Horst-Wessel-Lied in dieser Diskussion weiter? …

    Vermutlich lässt sich mein Fragenkatalog ganz gut runterdünsten, ich werde das bei Gelegenheit tun.

  7. Max Czollek schreibt:

    Liebe Charlotte, vielen Dank für den langen und tollen Kommentar. Was deine Anmerkung zu den Grundlagen angeht: da ist vor einigen Tagen ein englischer Artikel von mir im holländischen Onlinemagazin Samplekanon veröffentlicht worde: http://samplekanon.com/?p=2339

    alles weitere später; ich freue mich, wie sich die Diskussion entwickelt!

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