unter brücken sammeln
sich die toten errichten
ein lager aus zeitungen
lehne ich an einer bar
die jede zweite stunde
zinslos kredite vergibt
um den schlaf gebracht
suche ich ein sternbild
mit vergoldetem finger
eine nacht die gestützt
von sechsunddreißig gerechten
die dämmerung erreicht
Bei der Besprechung des Textes gestern gabs folgende Erkenntnisse:
1) Die (jüdische) Tradition, auf die sich der Text bezieht, ist nicht verfügbar. Anbei ein Link, um zumindest die Pointe zu erhellen: http://de.wikipedia.org/wiki/36_Gerechte
2) Die Frage, warum diese Tradition nicht verfügbar ist, öffnet eine ganze Reihe von historischen und sprachbezogenen Überlegungen. Meine These war, dass das jüdische nicht nur aus der deutschen Gesellschaft, sondern gleichsam aus der deutschen Sprache entfernt worden ist.
3) Diese Entfernung, deren Funktionsweisen und historischen Wurzeln nach wie vor hochgradig tabuisiert ist, findet durch das Überlagern des Wissens um jüdische Traditionen durch a) antisemitische Wissensbestände (so werden die „zinslosen Kredite“ dann gelesen) und b) sprachliche Assoziationen mit dem Holocaust (die Lager, die Toten, die Sterne) statt.
4) Wenn die Sprache ihre eigene Geschichte mit sich trägt, dann bezieht der Text sich immer schon auf antisemitische Wissenbestände und nationalsozialistische Sprache. Die These wäre also, dass JEDES deutsche Gedicht (nicht nur jenes, welches sich einer jüdischen Tradition widmet) durch diese Geschichte hindurch geht (mit Adorno gesprochen:) eine Ästhetik nach Auschwitz banalisiert nicht Auschwitz, sondern trägt es in sich als sprachliches, assoziaitives Sediment.
5) Meine (poetologischen) Überlegungen zu diesem Sachverhalt ist, dass es dann auf keinen Fall um eine Reaktualisierung jüdischer Traditionen gegen die deutsche Sprache und Sprachverdrängung gehen kann. Die Idee ist dann eher eine Art intimer Verarbeitung des Verdrängten und Tabuisierten, einer Poetik der Nähe. (ich denke, meine letzten Texte zeigen das ganz gut).