Fast jeder hat schon einmal ratlos vor einem Gedicht gestanden. Gedichte können uns emotional oder intellektuell berühren, aber mindestens genauso wahrscheinlich ist es, dass sie uns abschrecken. Wenn sie nicht zufällig von einem Promi vorgetragen, als Songtexte vertont, von Visuals begleitet oder von unseren eigenen Kindern verfasst werden, sind Gedichte ausgesprochen schlecht darin, sich zu verkaufen. All diese abgebrochenen Zeilen und affektierten weißen Ränder auf dem Papier – als dürfte man sie nur mit der getragenen Feierlichkeit behandeln, mit der man ein Kunstwerk im Museum bestaunt: Anschauen erlaubt, aber bitte nicht näherkommen – und auf keinen Fall anfassen.
Aber was, wenn die hohe Kunst des Gedichte Lesens am Ende gar nicht so hoch ist? Was, wenn das eigentliche Problem mit Gedichten unsere gutgemeinten, aber falschen Annahmen davon sind, wie man sie lesen soll?
Hier sind zwanzig bescheidene Vorschläge zum Überdenken der seltsamen Tätigkeit des Lyriklesens.
- Verabschiede dich von der Vorstellung, dass ein Gedicht dein Leben radikal verändern wird. Dein Leben ändert sich ständig; meistens bist du einfach nur zu beschäftigt, um dieser Veränderung Aufmerksamkeit zu schenken. Gedichte verlangen Aufmerksamkeit – das ist alles.
- Wenn du ein Gedicht liest – besonders ein Gedicht, das nicht zum Vortragen gedacht ist – dann lies es unbedingt laut. (Vergiss, was man dir in der Grundschule beigebracht hat – dass du leise lesen sollst, um die anderen nicht zu stören.) Dein Ohr wird mehr verstehen als dein Kopf zulässt. Das heißt: Dein Ohr wird deinem Verstand sagen, was er denkt.
- Wenn du einem Gedicht begegnest, dann versuch, seine Bedingungen zu akzeptieren anstatt deine Bedingungen durchzusetzen. Wenn du dich mit einem Gedicht „identifizieren“ musst, um es zu verstehen, dann liest du es nicht richtig. Anders gesagt: Versuch, das Gedicht nicht auf dein Leben zu beziehen. Versuch zu sehen, welche Welt das Gedicht entstehen lässt. Mit etwas Glück wird es dich dann deine eigene Welt neu sehen lassen.
- Wenn man ein Gedicht liest, ist man (bewusst oder unbewusst) permanent auf der Suche nach einer Ausrede, um das Gedicht beiseite zu legen, ein neues Gedicht anzufangen oder etwas ganz anderes zu tun. Widersteh diesem Drang, so gut es geht. Stell es dir vor, als seist du ein Buddhist, der eine hartnäckige Mücke betrachtet. Die Mücke – und das Gedicht – können nervtötend sein, aber es wird dich nicht umbringen, sie noch ein bisschen länger auszuhalten.
- Man wird dir erzählen, dass es zwei Sorten von Gedichten gibt: das „zugängliche Gedicht“, dessen Absicht und Bedeutung einfach zu verstehen sind, und das „schwierige Gedicht“, dessen Absicht und Bedeutung nur schwer zu verstehen sind. Du kannst selbst entscheiden, wieviel Arbeit du investieren willst.
- Wenn du ein Wort nicht kennst, dann schlag es nach oder stirb.
- Ein Gedicht kann man nicht anders oder einfacher ausdrücken. Tatsächlich ist seine größte Stärke das Gegenteil von einfacher Erklärung: nämlich Mehrdeutigkeit. Mehrdeutigkeit ist das, was uns als Menschen wesentlich ausmacht: Wir wissen nie, was im jeweils nächsten Moment passieren wird, verhalten uns aber immer so, als ob wir das genau wüssten.
- Ein Gedicht hat keine versteckte Bedeutung, sondern nur „Bedeutungen“, die direkt vor deiner Nase liegen – du hast sie bloß noch nicht bemerkt. Feinheiten zu erkennen braucht Übung. Lyrik zu lesen ist eine Konvention, genauso wie alles andere. Und du lernst die Regeln dafür genauso wie die Regeln für alles andere – genauso, wie du zum Beispiel lernst, ein Auto zu fahren oder einen Kuchen zu backen.
- Es klingt unmöglich, aber trenne die Autorin von der Sprecherin in ihrem Gedicht. Ein Autor oder eine Autorin trägt immer eine Maske (die ursprüngliche Bedeutung des Wortes persona), selbst dann, wenn sie sich nicht explizit darum bemüht. Wenn du Autor und Sprecher gleichsetzt, sprichst du dem Gedicht jegliche Imagination ab, die über das unmittelbare Leben der Autorin hinausgeht.
- Wenn du auf ein Gedicht triffst, das „ironisch“ wirkt, dann stelle sicher, dass es sich nicht bloß um den Sarkasmus des Sprechers oder deine eigene Skepsis handelt.
- Etwas „zum Vergnügen zu lesen“ impliziert, es gäbe ein „Lesen zum Missvergnügen“ oder ein „Lesen zur Strafe“. Jedes Lesen sollte lustvoll sein: Ähnlich wie Sex kann es mal mehr, mal weniger Lust bereiten, aber am Ende geht es eben auch nicht nur um Lust.
- Ein Gedicht kann sich anfühlen wie ein verschlossener Safe, der seine eigene Zahlenkombination in sich verschließt. Mit anderen Worten: Es ist völlig okay, wenn du ein Gedicht nicht verstehst. Manche Gedichte muss man dutzende Male lesen, bevor man auch nur den Hauch eines Verständnisses entwickelt. Und manchmal kommt das Verständnis nie. So ist das im Leben: Verwirrung und Verwunderung überwiegen zumeist.
- Benutze Randbemerkungen. Lesen, ohne etwas an den Rand zu schreiben, ist wie Gehen, ohne die Arme zu bewegen. Man kann das machen, und man kann so auch ans Ziel kommen, aber es wird sich immer anfühlen, als ob man etwas Essentielles dabei vergessen hätte.
- Es gibt eigentlich nichts zu verlieren, wenn man Gedichte liest. Wenn man sie nicht versteht, verliert man kaum Zeit oder Energie. Umgekehrt kann man potenziell eine ganze Menge gewinnen – einen neuen Gedanken, einen alten Gedanken, den man plötzlich neu sieht, oder auch nur einen Augenblick außerhalb all der anderen, komplett strukturierten Augenblicke unserer Zeit.
- Lyrik basiert auf Mustern und Variationen – selbst nicht-lineare, nicht-narrative, anti-lyrische Lyrik. Indem es Muster und Variationen dieser Muster wahrnimmt, versucht dein Gehirn, Ordnung in das scheinbare Chaos zu bringen. „Glockenspiel“, „Kaulquappe“ und „Gerechtigkeit“ haben vordergründig nichts miteinander zu tun, und trotzdem versucht dein Gehirn sofort, sie irgendwie zusammenzubringen, einfach deshalb, weil sie da sind, um verstanden zu werden.
- Gleichzeitig mit deiner Fähigkeit, Gedichte zu lesen, wird auch deine Fähigkeit steigen, Nachrichten, Romane, Gesetzestexte oder Werbung zu lesen. Vor ein paar Jahren konnte man auf einem Starbucks-Poster lesen: Freunde sind wie Schneeflocken… jede ist einzigartig. Wie wahr. Aber ist Schnee nicht auch kalt und vergänglich? Hoffen wir, dass das auf unsere Freunde nicht zutrifft.
- Beim Gedichte lesen geht es nicht nur darum, Gedichte zu lesen. Ihre angeblich hermetische Stilisierung von Satzbau und Wortwahl wird dich aufmerksamer für die Welt um dich herum machen; das gilt auch für Dinge, die nicht direkt mit Sprache zu tun haben. Ein Kleid, ein Gebäude, der Nachthimmel – sie alle beinhalten Systeme der Mustererkennung und Fortschreibung.
- Die allerbeste Art, ein Gedicht zu lesen, besteht möglicherweise darin, jung, intelligent, und leicht angetrunken zu sein. Es besteht allerdings kein Zweifel, dass Gedichte, die man im Alter liest, den Wunsch hervorrufen, man hätte in seiner Jugend mehr Gedichte gelesen.
- Eines Tages, wenn all deine materiellen Besitztümer ihren Nutzen verloren haben und nichts weiter als Hindernisse auf dem Weg zum Klo sind, werden Gedichte ihren Wert behalten. Sie sind Räume, die so wenig Raum einnehmen. Ein Gedicht, das man auswendig kann – ein, zwei Zeilen nur – ist halb innerer Schmuck, halb lebensrettende Fähigkeit: wie die beste Technik, um einen Taschendieb in den Schwitzkasten zu nehmen, oder um eine Mango auf-, ohne sich selbst dabei in die Hand zu schneiden.
- Ein Gedicht zu lesen liefert keinen Gesprächsstoff. Es bringt dich zum Schweigen. Ein Gedicht zu lesen führt an die Grenzen. Es bereitet dich auf die Stille vor, die uns alle ratlos macht: den Tod.
Aus: Mark Yakich: Poetry. A Survivor’s Guide. New York: Bloomsbury, 2016. Ins Deutsche übertragen von Lea Schneider. Publiziert mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Wunderbar! Ja, genau so ist es.
Sehr schön, Danke für diese Worte!
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