Poetologieversuch (2009)

Lyrik als Nassmacherin

Lyrik ist ein Sprachraum und Sprache gliedert unsere Weltwahrnehmung. Wir gebrauchen sie oft auf zwei Arten unachtsam. Einerseits, als gäbe es auch viele andere mögliche Varianten, einen Zustand auszudrücken – als hätten wir die Wort-wahl, seien freie Wählende.
Andererseits erscheint es uns erst mal lange ziemlich natürlich und normal, wie wir die Welt zum Beispiel auf deutsch denken und für wahr halten. Auch wenn wir eine andere Sprache lernen, dann merken wir uns erst Übersetzungslisten, Vokabeln: „Eimer“ heißt „bucket“ und „Ei“ ist „egg“ auf Englisch. Erst mit dem Weiterlernen, dem Sprach-Erfahren merken wir vielleicht, dass wir in einem Sprachraum leben und somit auch reisen können – Übersetzen mit einem Boot in ein anderes Land, einen anderen Raum. Gleichzeitig können wir so aber auch bemerken, dass auch unser Raum riesig und vielfältig ist und wir ihn uns nie genauer angeschaut haben. Dieses Erleben – nach dem mensch begonnen hat zu er-fahren, zu reisen, überzusetzen – ist ein sprach- und damit wirklichkeitskritisches, aber es ist ein Leben, ein Sammeln, ein Zusammensetzen.
Lyrik ist eines dieser Gefäße zum Aufnehmen, Auffangen. Sie ist Wahrnehmungsmittel, das in einigen Zeilen eine Weltvariante zeigt, aber die Aufmerksamkeit gerade auch auf den Sprachraum lenkt. Zeilenbrüche hebeln Normalität aus, geben der Leserin und Schreiberin ein Ruder, um das Boot zu benutzen, das sich oft wie Festland anfühlt.
Wir leben in einem Strom – versuchen aber oft, mit einer Land-karte, eigene Wege einzuschlagen oder zu planen.
Lyrik macht nass, sie bringt uns dazu, zu fühlen, dass wir schwimmen (oder Boot fahren). Sie macht bewusst, dass Wissen flüssig ist und Begreifen ein ewiges Versuchen, dem Wasser eine Form zu geben.
Das alles geschieht in wenigen Zeilen, sehr dicht und ziemlich kurz. Das muss es auch, da das Lesen eine andere Art von Aufmerksamkeit verlangt als bei Romanen oder Zeitungsartikeln. Lyrik ist ein dichtes Angebot – der Lesende kann eine verdichtete noch fremde Geschichte oder Weltvariante erkunden und dadurch das eigene (Er-)Leben verdichten. Beim Aufnehmen des Gedichts sind und bleiben wir aktive Weltsichtende.
Paul Celan beschreibt das in seiner Büchner-Preis-Rede von 1960, „Der Meridian“, als eine Gesprächssituation, die das Gedicht eröffnet, das also „ein Gegenüber [braucht]“1. Er spricht von einer „Aufmerksamkeit, die das Gedicht allem ihm Begegnenden zu widmen versucht, sein schärfster Sinn für das Detail, für Umriss, für Struktur, für Farbe, auch für die ‚Zuckungen’ und die ‚Andeutungen’“ – und das durch „Konzentration“, wie er es nennt, oder eben Dichtung. Lyrik widmet und richtet Aufmerksamkeit, sie ist konzentriert, aber auch ver-rückt, indem sie denkbar werden lässt, was in einem normalen Alltag, wenn alles „gut“ läuft und nach Plan, nicht wahrnehmbar ist – indem sie nass macht.
Theodor W. Adorno behauptet 1951 in seiner „Rede über Lyrik und Gesellschaft“ , ein Gedicht werde „erst dann künstlerisch“, wenn es „nicht bloß der Ausdruck individueller Regungen und Erfahrungen“ sei, sondern „Anteil am Allgemeinen gewinn[e]“2.
Lyrik ist aber nie rein individuell. Das macht sie spannend, sie ist immer Angebot, bedient sich Symbolen, einer (mindestens minimal-)konventionellen Sprache, die sie dadurch deutbar macht und zur Auslegungssache werden lässt.
Die Frage nach dem, was Kunst ist, lässt sich nicht so leicht beantworten – und darauf kann an dieser Stelle auch gar nicht nach einer Lösung gesucht werden. Nur so viel: Drückt ein Gedicht der Lesenden das Gefühl auf, richtig verstanden werden zu können, es versagt sich ihm aber der Zugang – so wird sie es wahrscheinlich abtun. Ob dann als unverständliche Kunst oder als Schwachsinn, hängt von vielen Faktoren ab. Kunst im Sinne von künstlich ist ein Gedicht aber immer. Darin liegt auch ein wichtiger Aspekt von Lyrik: sie kann alles als geschaffen entlarven. Indem sie die Welt auf eine Bühne setzt, zeigt sie, dass diese auch anders inszeniert werden kann. (Jedenfalls bietet sich im Gedicht die Möglichkeit dazu, wobei das natürlich keinesfalls in allen Gedichten der Fall ist – wo wir wieder bei der Frage nach der Kunst wären.)
Damit wird Alltag zum Thema, er wird Gegenstand der Aufmerksamkeit und als solcher hinterfragt. Lyrik ist „Bewusstbarmachung“, sie ist etwas Surreales und es würde auch ohne sie gehen, vor allem auf festem Grund.

Mahlzeitfresser

mein Bruder wird Sterne
koch beißt sich die Zähne
zum Hals raus nachts
kaum Zeit
zum Träumen 16 Stunden
Lehre am Tag
schmecken Sterne nicht.
.

ICH FÜR MEINEN TEIL –
(v)ergriffen –
schweige gänzlich
teilst du meine Ansicht
durch 2
verstopfte Filter
schwimmen auf dem Sieb
in Buchstaben
Kombinationen
ausgerechnet
wir!

.

willkommen

will-ja-kommen
war weit und bin
jetzt
hier

beschriebenes Blatt im Wind
bin ich und
kann kaum lesen
keiner kann.

will-ja-kommen.
und soll gehen?
wieder
kommen
können?

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4 Antworten zu Poetologieversuch (2009)

  1. Helene Könau schreibt:

    ein alter Essay von mir, der mir wieder in die Hände fiel und der hier vielleicht ganz gut herpasst :)
    würde mich auch aus anderen Federn/Tastaturen interessieren…
    !?

  2. Maria Natt schreibt:

    ja, sie macht nass.

  3. Ilja Winther schreibt:

    das schreit doch danach, eine poetologie/ essai-kategorie auf dem blog einzurichten. hier nimmt das dann doch ein bisschen viel platz in anspruch.

  4. Helene Könau schreibt:

    ja! ja! auf, auf! ich will was von euch lesen…

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