anleitung zum rausgehen

achte auf die anderen, auf die vielen möglichkeiten eines unfalls.
sei schnell genug – die meisten einbahnängste sind so eng, dass
du drinnen nicht wenden kannst. aber eigentlich gefällt dir das,
die verlässlichkeit des vagen risikos hinter dir: ein soundtrack.
betreten auf eigene gefahr, zwingt dich niemand in diese musik,
in deine definitionsgrenzen mit offenen schnürsenkeln. die sind
eher nickelig, wie ein meerschweinchen. muffeln nach heu und
gehen kaputt, wenn man zu fest drauf drückt. achte immer auf
dein abtropfgewicht, liegt es konstant bei fünfeinhalb gramm?
achte auf den taktschlag. auf schuhe, in denen du rennen kannst.

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Dieser Beitrag wurde unter Lea Schneider, TEXTE veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

8 Antworten zu anleitung zum rausgehen

  1. Lea Schneider schreibt:

    ACHTUNG: es folgen einige sehr explizite erklärungen zum text; ich möchte ihm eigentlich nicht die pseudo-autorität meiner meinung als autorin aufdrücken, weil letztlich gilt, was immer gilt: der text muss für sich sprechen können – glaube aber in diesem fall, dass es sinn macht, was zur idee dahinter zu sagen.

    dieser text ist der erste von einer reihe von anleitungen, die ich schreiben möchte und für die ich noch ein gutes einstiegszitat suche, das meine intention deutlich macht (und damit auch kommentare wie diesen hoffentlich überflüssig): aufzuzeigen, dass alltägliches handeln nicht selbstverständlich so ist, wie es ist, sondern von einer ganzen reihe von regeln strukturiert wird, die nicht natürlichweise so sind, sondern sich aus gesellschaftlichen herrschaftsstrukturen herleiten. diese regeln werden in den seltensten momenten als solche wahrgenommen, sondern eher unbewusst befolgt – gerade deshalb sind sie wirkmächtig. betroffen sind von ihnen in erster linie diejenigen personen, die auf irgendeine art nicht teil der (diskursiven) norm sind und dadurch die privilegien dieser norm nicht teilen, den eigenen alltag als selbstverständlich, oder, zugespitzt: angstfrei, zu erleben; denn wer als „andere_r“ durch den alltag der norm läuft, riskiert überall dort, wo er_sie als solche_r wahrnehmbar wird: anzuecken, aufzufallen, als gleichwertiges individuum negiert zu werden, auf verschiedenste arten verletzt zu werden, in den extremsten fällen: zu sterben, aufgrund der sichtbaren nichtzugehörigkeit, der markiertheit der eigenen position. damit sind solche impliziten „anleitungen“ nicht einfach ein spiel, mit dem nach art des magischen realismus deutlich gemacht wird, wie absurd die kontingenz unserer verhaltensweisen, unserer alltäglichen zwänge ist, sondern für menschen, die als „anders“ markiert sind, (und wieder spitze ich zu, weil natürlich die wenigsten personen in jeder situation als „anders“ markiert sind, sondern zwischen verschiedenen subjektpositionen je nach kontext wechseln und dabei sehr wohl parallel opfer und täter_in sein können), eine anleitung zum überleben. wichtig ist mir dabei auch, dass diese regeln zwar strukturell und nicht personell gebunden sind, aber dennoch autoritär funktionieren und einen diskurs strukturieren, der postulate über das erleben der von ihnen betroffenen anstellt, ohne dass diese (zumindest vorläufig) die bildung dieser narrative beeinflussen können; so wie in diesem text auch einfach autoritär gesetzt wird, wie sich das „du“ fühlt: „eigentlich gefällt dir das“ doch.
    das projekt wäre dann, durch die bennenung des unbenannten die konstruiertheit, in teilen vielleicht auch die kontingenz dieser regeln auszustellen (und auch das intuitiv absurde einer anleitung für etwas so alltägliches wie rausgehen, lachen, weinen, schnürsenkeln zubinden, treppen steigen, …) und damit eine gewisse handlungsmacht jenseits dieser regeln zu kreieren: indem ich sie als solche benenne und damit in laufe der texte, die noch kommen sollen, eine möglichkeit eröffne, sich zu ihnen zu verhalten anstatt sie als gegeben hinzunehmen.

    soweit meine ideen. jetzt fehlt mir nur noch ein zitat, dass diesen ganzen wust möglichst prägnant zusammenfasst – vorschläge?

  2. berndg42 schreibt:

    Hallo Lea,
    die neuen Dadaisten schreiben alle einen herrlichen Unsinn. Ist das die Antwort auf die Ratlosigkeit unserer Zeit? Ich vermisse oft die Tiefe im Text, die mich nachden ken ließe. Eine Ansammlung von Bildchen macht noch kein Gemälde. Das ist alles nahe am Patchwork. Man kann aber auf die Vielfalt der Wortschöpfungen zugreifen, falls man mal was brauchen wollte. Fast alle Texte lassen sich so beliebig schrumpfen. Und der Eindruck einer Pseudolyrik leidet darunter nicht.
    berndg42

  3. Martin Piekar schreibt:

    Hallo liebe Lea,

    tolle Idee, die du da für einen Zyklus hast – eine Reihe von Anleitungen – und was für eine!
    find ich gut. Kenn ich auch persönlich würde ich behaupten und mag es, wie du rangehst.

    Zu dem Gedicht erstmal:
    Das Abtropfgewicht am Ende schießt für mich erstmal völlig aus dem Konzept, weiß nicht wieso, aber ich reibe mich unangenehm daran (kann ja auch was gutes sein, nech?)

    ansonsten kann ich nichts bemängeln, ich würde gerne, um dir weiter zu helfen, aber ich glaube hier gefällt mir einfach zu sehr dieser Cocktail aus Angst, Norm und Soundtrack/ Musik – das find ich super :D
    Achte, achte, achte – ja worauf sollen wir denn noch alles achten?
    manche Achtung muss man verachten!

    das Meerschweinchen flimmert grad nochmal – will ich aber nicht bemeckern. Haftet eher gut nach.

    Möglichkeiten eines Unfalls
    vages Risiko
    Definitionsgrenzen
    das sind super Stellen!

    Grüße
    Martin

  4. Max Czollek schreibt:

    liebe lea, interessanter text und interessantes konzept. allerdings würde ich, wie immer im falle starker konzeptionen, sagen: „whatever floats your boat“ – also: wenn dann gute texte bei rauskommen, ja! wenn du damit die welt ändern willst: quatsch!

    das scheint mir auch eine problematische stelle in deiner poetik zu diesem text, nämlich die idee, du würdest tatsächlich anleitungen schreiben, die dann irgendwelchen anderen helfen, vielleicht sogar zu überleben. das sehe ich nicht in diesem text und kann es mir auch schwerlich in anderen vorstellen, ohne dass das eigentlich interessante an dem text, die verhandlung des eigenen im befremden, verloren geht. die anderen denken ja auch anders. genau wie wir.

    und diese theorie ist eine theorie. und ich würde echt vorsichtig sein, wenn es darum geht, den anderen zu helfen, zu überleben. was ist denn dann deine perspektive? von welcher position aus schreibst du das? wem soll geholfen werden? das hat dann alles etwas politisches, etwas verzweifeltes, aber auch etwas joviales: ich erkläre euch mal die welt. nö. ich würde sagen, der text erklärt sich selbst die welt. das find ich gut. aber: whatever floats your boat ;)

  5. berndg42 schreibt:

    Hallo Lea,
    ich würde nicht sagen „zum überleben“, aber als eine anleitung
    zum ändern des eigenen verhaltens ist dein text durchaus hilfreich.
    und wenn meine anfangs geäußerte kritik nicht den kern der sache
    trifft, so verstehe das bitte als gut gemeinte provokation
    mit der absicht, vielleicht eine spontane reaktion auszulösen.
    man will ja mehr erfahren,lol. dennoch finde ich deine idee
    interessant und auch realisierbar. man könnte mit diesem „rezept“ durchaus
    poetische texte schreiben. nur sollte man verständlich bleiben.
    das meint, den bezug zum thema, zum konflikt, zur situation oder
    dem gegenstand der betrachtung so nahe zu bleiben, dass für den leser
    keine rätsel entstehen. also bitte immer bemüht sein, hier keine
    verschlüsselten, für andere unverständlich sachverhalte darzustellen.
    weiß selbst, welchen reiz eine solche schreibe gelegentlich hat. sie nützt
    aber oft nicht einmal dem lesefluss. wortspielereien dürfen sich aber mit
    einen gewissen grad der abstraktion vom text abheben. ich gebe allerdings zu,
    dass ich mich noch nicht an die textblöcke, die ja bei G13 oft aneinanderreihungen
    von wortschöpfungen sind, noch nicht gewöhnen kann.

    Zitat:
    …muffeln nach heu und
    gehen kaputt, wenn man zu fest drauf drückt. achte immer auf
    dein abtropfgewicht, liegt es konstant bei fünfeinhalb gramm?

    hier machst du gewaltige sprünge. obwohl ich schon weiß, dass der text
    genau die „anweisung“ oder „frage“ gibt, die unser verhalten bestimmt.
    insofern ist es die fortsetzung der kritk(analyse), die weiter oben mit

    Zitat:

    …achte auf die anderen, auf die vielen möglichkeiten

    das „werk“ einleitet. ohne deine erklärungen blieben
    die intentionen sicherlich unverständlich.

    ich hoffe mit dir, dass deine texte auf leser treffen,
    die sich mit neuer einstellung im alltag ihres verhaltens
    bewusster werden.
    lieben gruß
    berndg42

  6. Lea Schneider schreibt:

    habt vielen dank für eure kommentare! und entschuldigt meine reichlich späte antwort, aber hier kommt sie nun:

    lieber bernd, ich kann deine skepsis gegenüber patchwork-artiger bildfolgen, zumindest was diesen text angeht, gut verstehen. und ich glaube, du hast recht: mit viel sprachspiel und experiment ist hier nicht unbedingt viel gewonnen. es ist das erste mal, dass ich mich auf diese art konzeptuell an ein projekt wage, und das erfordert ein schreiben, das ganz anders von meinem üblichen, im weitesten sinne assoziativen (aber dennoch auch da: nicht beliebigen, der kritik würde ich dann doch entgegen halten ;)) verfahren ist. daran muss ich mich erstmal gewöhnen, aber ich glaube deine kritik trifft es schon auf den punkt: mit diesem einzelnen text wird noch nicht klar, was ich verhandeln möchte. dafür werd ich mich nochmal an eine überarbeitung machen, ich hoffe aber auch, dass die einbettung in einen zyklus und das eingangszitat (nach dem ich immer noch suche) dabei auch helfen werden.

    lieber max, genau um die form von anleitung/lyrikverständnis, wie du es ansprichst, geht es mir ja grade NICHT ;) was mit den anleitungen dargelegt werden soll, ist nicht ein konzept dazu, wie man besser lebt oder ein versuch, irgendwelche menschen zu retten (das wäre wohl a) sehr arrogant, b) von mir nicht zu leisten und c) auch kein thema für lyrik), sondern die tatsache, dass es – unausgesprochene, unaufgeschriebene – handlungs-anleitungen in jeder situation gibt, als folge von machtstrukturen, in denen wir leben und die unsere handlungsspielräume formen. ganz platt ausgedrückt könnte man sagen, ich versuche, die konzepte von bio-macht und gouvernementalität lyrisch zu verarbeiten – mit dem hintergedanken, dass sich das bedrohliche dieser mechanismen in einem gedicht bzw. mehreren gedichten anders zum ausdruck bringen lässt als in einem wissenschaftlichen text. also letztlich der impetus, eine bestimmte erkenntnisform für andere/mehr menschen zugänglich zu machen und darüber – potenziell, immer nur potenziell – eine erhöhte aufmerksamkeit für diese themen, vielleicht auch eine kritischere sicht, vielleicht auch im allerletzten schritt eine politisierung zu erreichen. das wäre der plan :) also genau nicht den menschen eine anleitung zum überleben schreiben, die ohnehin schon immer anleitungen durch den alltag gehen, sondern denjenigen, die davon nicht betroffen sind, weil sie sich in unmarkierten positionierungen befinden und darum dieselben situationen mit einer selbstverständlichkeit erleben, aufzeigen, dass es für andere als ihre positionen genau diese anleitungen, diese nicht-selbstverständlichkeit, gibt.

  7. Tristan Marquardt schreibt:

    liebe lea, selbst nach deinen ausführungen muss ich max immer noch recht geben. das problem scheint mir zu sein, dass durch den text, wie er jetzt ist, ziemlich deutlich wird, dass es a) ein problem gibt, das angegangen werden soll und b) du die instanz bist, die das hier jetzt vermittelt. und das hat sofort etwas didaktisches, der zeigefinger ist konzeptuell angelegt. es mag kontraintuitiv klingen, aber mir scheint mehr uneigentlichkeit vonnöten, um das zu erreichen, was du dir wünschst. momentan steht da: „es geht ums rausgehen! und es gibt leute, für die das ein problem ist! denk mal drüber nach!“ das scheint mir, mit deinen worten, nicht besonders viel „anders zum ausdruck“ zu bringen, dafür bräuchte es nämlich genau das: andersartigkeit. ein gutes, vielleicht schwer zu toppendes beispiel dafür ist in meinen augen michael stauffers „soforthilfe“ (roughbooks 2), der für alle möglichen lebenslagen beispiele gibt, wie man sich verhalten soll. das tolle daran ist, dass diese beispiele im regelfall so absurd wie realisitisch zugleich sind, und sich nie entscheiden lässt, was jetzt eigentlich abgefahrener ist: die als eigene erfahrung erlebte realität oder die hypothetische fiktion. und das funktioniert deshalb so gut als anleitung, weil hier vor allem ein modus des denkens trainiert wird und nicht die situation selbst. forciert und sicherlich übertrieben gesagt, scheinen mir bspw. linus‘ letzte texte deswegen durchaus gelungene anleitungen zum rausgehen zu sein, weil sie einem mut dazu geben, die dinge anders zu machen. nicht einfach strukturen zu bejahen oder zu verneinen, sondern sie gleichzeitig so ernst zu nehmen wie mit ihnen zu spielen. wenn ich mir also etwas wünschen dürfte, wäre es, dass du in den anleitungen mehr so arbeitest wie in deinen sonstigen texten auch, sprich: das thema ist ernst, aber etwas ernst zu nehmen, heißt nicht, es ernst zu nehmen.

  8. Lea Schneider schreibt:

    hmmm. ja. ich glaub, das versteh ich rundum. aber das ist dann ein anderer text, ne? wie du schon sagst, einer, der nicht nur ein problem aufzeigt, sondern gleichzeitig möglichkeiten zu seiner überwindung ausprobiert. so viel und so weit hatte ich beim schreiben dieses textes noch gar nicht gedacht und getraut. was nicht heißt, dass ich mir das nicht auch wünsche :) das vertrackte scheint mir wirklich die arbeit mit einem konzept von anfang an zu sein, da kommt sicherlich auch die gefahr des didaktischen her. die „soforthilfe“ schau ich mir mal an, hatte in der diskussion auch schon die anleitungen aus julio cortázars „südliche autobahn“ als inspiration erwähnt, der macht auch sowas ins absurde gewendete, und er macht es ausgezeichnet.
    was sich mir aber als frage doch stellt: warum ist es problematisch, wenn da ein text steht, in dem erstmal, um dich zu zitieren, nur postuliert wird: „guck mal, da passiert was schlimmes?“ ist es wirklich die aufgabe von lyrik, das dann direkt auch wieder zu überwinden? bzw., überspitzt gefragt: was ist schlecht an texten, die etwas auf diese art ernst nehmen?

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