die straße 645

was meine schrift sagt
nur noch wäsche hängen
lass dich zutraulich
entschuldige nicht eine andere person
natürlich die frage wie ich hier meine
unmittelbare erfahrung los werde
für die die wiederkommen
und die weitermachen

im schlepptau schlag worte schlag
eine neue sprache für die rippen
was nicht vorkommt auswendig lernen
wir fordern den erhalt der straße 645
wir wünschen uns artenvielfalt
wir schauen in garderobe auf die ölkatastrophe

europa oder meine bedürfnisse
es braucht den abend parallel

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[parkblick]

vor dem parkblick
den es selten
in der stadt gibt
sitzt die mutter
und berichtet
dass ein reha-zentrum
existiere
dessen fenster
alle parkblick
den es selten
in der stadt gibt
haben
dass dies aber
nicht der grund sei
aus dem jener ort
sie interessiere
nein das zentrum
dessen fenster
alle parkblick
den es selten
in der stadt gibt
haben
kombiniere
beide spezialisierungen
von denen sie
und ihre kranke tochter
profitieren
insofern als dass
je eine spezialisierung
eine krankheit
die je eine
von ihnen betrifft
kuriert
neutral gesprochen
therapiert
denn während ihre
krankheit
die der mutter
von der schweren
aber reversiblen
art ist
bleibe ihrer tochter
wenig zeit
mit deren
schwerer krankheit
von der nicht zu
bändigenden art
zu ringen
und da sei
die schwere
aber reversible
krankheit
plötzlich
umso peinigender
über sie die mutter
hergekommen
denn die aussicht
weniger
als wenig zeit
mit ihrer tochter
nur noch zu verbringen
sprenge ihr auch
innerlich
das mark
nach dem was
äußerlich
und plötzlich
über sie die mutter
hergekommen
drum ersuche sie
die möglichkeit
der weiteren behandlung
in dem reha-zentrum
dessen fenster
alle parkblick
den es selten
in der stadt gibt
haben –
und bevor ich mich
verabschiede
spricht sie schon weiter
dass dies aber
nicht der grund sei
aus dem jener ort
sie interessiere

Veröffentlicht unter Alexander Makowka, TEXTE | 1 Kommentar

G13 @ ZLB

Am 10.04.2017 von 11.00 bis 18.00 Uhr waren wir zu Gast im Salon der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. In dieser Zeit entstand ein Live-Gedicht in und über die Bibliothek, gemeinsam mit den Mitarbeiter_innen, den Besucher_innen und den Büchern vor Ort. Für „soziometrische“ Gedichte wurden Wachschutz, Infothekenpersonal und Leser_innen interviewt, auf bibliothekweit verteilten Zetteln konnten eigene Gedichte oder Lieblingszeilen zum Einarbeiten in den entstehenden Text hinterlassen werden, und aus dem einen oder anderen zufällig ausgewählten Buch oder den Titelseiten der Zeitschriften im Salon entstanden Collagen und Medleys. Das Anwachsen und Bearbeiten des Gedichts konnte den ganzen Tag über auf der Leinwand im Salon beobachtet, kommentiert und beeinflusst werden.

***

Welcome. Do you have a line or part of a text you would like to share with us? (WE HAVE CANDY.)

Bonjour. Est-ce que vous avez un vers ou un autre bout de texte que vous voudrez partager avec nous?

Ciao. Avete una riga oppure un altro pezzo di testo che vorreste condividere con noi?

Czesc. Czy masz wiersza ktorym chcialbys/chcialabys sie podzielic?

Hoi. Häsch ächt es gedicht oder es stückli tegscht wod mit eus wetsch teile? (Ja, das ist schweizerdeutsch.)

***

11:05 Der erste Besucher begrüßt uns: „Bleichgesichter, Bleichgesichter!“

11:11 Eine Zettelbox wird zur Verfügung gestellt. Aus der Zettelbox: „Bäume begegnen sich nicht und leben in der Regel länger.“

11:20 Mitglieder des G13-Kollektivs essen ihre eigenen Bonbons! Hilfe!

11:27 Keine Bleichgesichter im Brockhaus. Aber: „Bleichhorizont“. (Von wann stammt der Brockhaus in der Amerika-Gedenk-Bibliothek?)

11:28 Was will mir jemand sagen, der mit ein Buch entgegenhält, das „A gorilla in a mirror“ heißt?

***

Soziometrische Poesie I: Was ist der gruseligste Ort in Berlin?

Das olympische Dorf

Die Radarstation auf dem Teufelsberg

Der Spreepark

Die Simon-Dach-Straße

Der Müggelsee

Ku 39,7 12

Die Wohnung meiner Freundin

Die Ringbahn gegen 5.30

Der Frühling (wegen Eichhörnchen)

Mustafa’s Gemüsekebap

Deine Mutter

Sie nicht zu lieben wäre mindestens so gruselig

wie beim Niesen die Augen offenzuhalten.

***

11:29 „Bevor du’s wie?“ – Bevor du’s weißt kann es alles sein: Ein Bleichhorizont ist ein Oberbodenhorizont. Er wird auch als Eluvialhorizont bezeichnet.

11:53 Kowka sagt: „Über das Zölibat will ich nichts schreiben. Das ist mir zu heikel.“ Dazu der Zettelkasten: „Intelligenzzölibat – bin ich die/der/das Einzige, der/die/das mich versteht? Oder verstehe ich das falsch?“

***

Soziometrische Poesie II: Zeilen von heute

für heute habe ich mir vorgenommen, alle ausgaben vom spiegel zu lesen.

bitte vermeiden sie es, wenn möglich, heute zu husten.

in japan endet heute die zeit der kirschblüte.

wohin mein rucksack mich heute begleitet, steht in den spuren seiner DNA.

wenn sich pink und blau heute überschneiden, entsteht ein gedicht.

wo stehen die fahnen heute auf halbmast?

***

12:11 Frage an der Infotheke: „Ja, also, das Buch ist blau und spielt in NRW. Haben Sie das?“

***

Oberflächenphänomene I: Medleys aus dem Zeitschriftensalon

Familienkunde. Ein Samenspender erzählt

Was unsere Mannschaft so einzigartig macht

Stil, Style, Wahnsinn

Das Geheimnis von Rio:

Kein Schwein muss Tiere essen

 

Schwarze Magie. Daheim und unterwegs

Wenn Männer mir Dinge erklären

Sammler von Aufstell-Figuren

Martin Walser. Untoter Kunstrichter

Die Briten und das Lob des Nichtstuns

 

Praxis der Zigarettenschachtel

Elastolin trifft Play Along. Neue Kombinationsmöglichkeiten

Kinder psychisch kranker Eltern

Gymnasium Bochum. Punk will never die!

Ihr seid alle Weltmeister

 

Wo kommen die guten Ideen her?

Soziale Kulturpolitik

Deutsche Gesellschaft für Flöte e.V.

(Ver)blühende Landschaften

Vom leisen Fieber des Tieftauchers

 

Die Kunst des Attentats. Love you, Probleme

Analog und zum Anfassen

So stemmte sich die Wehrmacht gegen Deep Purple

Schockbilder auf der deutschen Seele

Wotan Wilke Möhring erklärt, was das bringt

***

12:25 Beneiden Sie manchmal Tiere, die ohne Hoffnung auszukommen scheinen, z.B. Fische in einem Aquarium?

***

Soziometrische Poesie III: Bibliotheksmythen laut Saalpersonal

Der Klavierstimmer nahm immer 1 Kaffee mit Milch und 2 Stück Zucker. Leser und Klavierstimmer mögen es, wenn man sie betüddelt.

Löwen im Holz ist der Titel eines der 78244 Bücher, die bis zum 13.8.2014 seit ihrer Anschaffung für die Amerika Gedenkbibliothek nie ausgeliehen wurde. Am 29.4.2016 beläuft sich die Zahl der nie ausgeliehenen Bücher auf 30354.

Der Tamponmann war bunt wie ein Paradiesvogel und hatte einen hohen, bunten Hut, der mit Haarklammern und Tampons behangen war. Er ist irgendwann einfach nicht mehr gekommen.

Das gleiche gilt für die Frau im Hasenkostüm. Die war aber nur einmal da.

***

12:55                          Neben dem Regal mit der entleihbaren Kunst

                                                                      befinden wir uns

                                               wer hätte das gedacht

                                                       nicht im Gedicht!

***

Oberflächenphänomene II: Medleys aus dem Themenraum

hemden boten birkensetzlingen ein schutzblech (nach carolin callies)

die brunnenfigur taumelt in den wellenformen (nach ulrike almut sandig)

das gegenteil der kleinen welt wird mit haut und haaren verdeckt (nach orsolya kalasz)

der abschied, feines porzellan (nach karla reimert)

schaumkronen pochten unter der schädeldecke (nach birgit kreipe)

***

13:04 Haben Sie Angst vor dem Tod und seit welchem Lebensjahr? Was tun Sie dagegen?

Haben Sie keine Angst vor dem Tod (weil Sie materialistisch denken, weil Sie nicht materialistisch denken), aber Angst vor dem Sterben?

Haben Sie schon einmal gemeint, dass Sie sterben, und was ist Ihnen dabei eingefallen?

  1. was Sie hinterlassen? / b. die Weltlage? / c. dass alles eitel war? / d. eine Landschaft? /e. was ohne Sie nie zustandekommen (sic*) wird? / f. die Unordnung in den Schubladen?

***

Soziometrische Poesie IV: Zeilen von heute 2

bäume begegnen sich nicht.

vielleicht ist das schicksal

eine reihe von lebensvorschlägen:

 

ein gorilla im spiegel.

eluvial. hoi. häsch du

ä cändy. wenn tiere nur

reden könnten.

 

was würden sie sagen?

befinden wir uns hier

am grusligsten ort in berlin?

im olympischen dorf,

 

im spreepark, der wohnung

deiner ex-frau. wohin mein

rucksack mich nacher begleitet,

steht in den spuren von DNA.

 

wo stehen die fahnen heute

auf halbmast? der abschied

feines porzellan. fruchtbonbons

im bestechungsglas.

 

wiederholen sie diese worte

mindestens dreimal:

kirsch, kitsch, knirschen.

die rocky-mountains eine zettelbox.

***

13:37           Die Leute kommen und gehen,

                         reden über Ai Wei Wei

         Alle drei Minuten fährt eine gelbe U-Bahn vorbei.

***

Oberflächenphänomene III: die gelbe u-bahn

alle drei minuten

zieht sie sich wie eine immer

wiederkehrende girlande

durch den hintergrund;

ein sich zeitig einholender anlass

wird begangen

 

vom u-bahnhof zur bibliothek

sind es nur wenige schritte

hinter den scheiben

hat man den eindruck

man könnte ihr winken

und sie zum anhalten bringen

und aufspringen

 

jemand, der vom u-bahnhof

zur bibliothek hinüberläuft

sieht, wie im kanal etwas blinkt –

das stählerne herz eines schwans

der versinkt?

eine fischattrappe

die immer an der oberfläche schwimmt?

teile des vielbeschworenen

schatzes im landwehrkanal

den niemand hebt

weil er/sie/es sich bei tag nicht traut

und bei nacht nichts sieht?

***

14:01 Sieben Normale und kein Mensch auf der Straße zum Anschnauzen.

14:46 Kolchos-Bauern grüßen einen Panzer. Gischt schwimmt als Schaumkrone auf dem Kirschkitsch. Wiederholen Sie diese Worte mindestens dreimal: Nein. Nein. Nein.

15:11 „Entschuldigung, den Fokus, wo finde ich den?“

***

Oberflächenphänomene IV: Ku 39,7 12 (Blumensträuße für einen Panzer)

  1. Überbordender Purismus.
  2. a) Kitsch in der Kindheit.
  3. b) Kitsch in der Kita.
  4. Werbung für Touristenparadiese.
  5. Erotische Haremsszenen.
  6. Das religiöse Bild im Schlafzimmer.
  7. In großen Festen:
  8. b) Klare Botschaften. |
  9. a) Doppelte Botschaften. |
  10. Hund und Hirsch.
  11. Die erhabene Natur.
  12. Dreschen in der Kolchose.
  13. Der zunächst dem Suprematismus zugewandte Künstler.
  14. Die totalitäre Kunst.
  15. Die idealisierte arische Frau.
  16. Die Begeisterung für Pferde.
  17. Mehr georgischer Stahl.
  18. Der (weibliche) Körper.
  19. Barbie, mit zwei Freundinnen beim Sonntagsausflug, vor dem roten Cabrio mit den teuren Weißwandreifen.
  20. Pin-Up Girl auf Flaschenhals.
  21. Damenbein als Zigarrenabschneider.
  22. Busen-Doppelkerze von beachtlichen Ausmaßen.
  23. Ein Frau als
  24. a) Staubpinsel.
  25. b) Nussknacker.
  26. c)auf dem Topf.
  27. Eine Nachbildung der Skulptur von Antonio Canova, im Souvenirshop erhältlich.
  28. Marilyn Monroe und James Dean auf Desserttellern serviert.
  29. Ein Kunstwerk, das den Appetit anregt.
  30. Das berühmte Lilienporzellan.
  31. Lampe, Vogel, Presskristall.
  32. Der mexikanische Heilige der Raucher.
  33. Der Hausaltar eines Modedesigners.
  34. Ein Schrein zum Selberbasteln.
  35. Buddha-Köpfe in Serie.
  36. Die Metamorphosen eines Eimers.
  37. a) Kleine Kuhglocken.
  38. b) Winzige Kuhglocken.
  39. c) Keine Kuhglocken.
  40. Die Utopie der Wiederholung.
  41. Eine besonders betroffene Sorte von Kartoffelchips.
  42. Nostalgische Oblaten.
  43. Die stark erotisierte Darstellung der büßenden Maria Magdalena.
  44. Lenin für die Wand, aus Wolle gewebt.
  45. Die ewig unerschöpfliche Frage des Interieurs.

***

15:40 Seit 9:02 ist das interne Netz der Berliner Verwaltung gestört. Seit 13:12 hat sich diese Netzkrise auch auf die Suchmaschinen der Amerika-Gedenk-Bibliothek ausgeweitet; gegenwärtiger Stand unbekannt.

16:00 „Herr Stepperneck möge sich bitte bei der Anmeldung melden.“

16:18 „Achtung, Achtung. Es befindet sich ein kleiner, brauner, angeleinter Hund im Foyer, der sitzt da ganz schön im Weg rum. Wenn Sie einen kleinen, braunen, angeleinten Hund im Foyer gelassen haben, holen Sie ihn bitte dort ab.“

***

Soziometrische Poesie V: Unterhaltungen mit Mitarbeiter*innen der Bibliothek

Gründe für einen Krankenwagen: Alkohol, Reichsbürger, Heroin, Buchlawinen, Ohnmacht, Übelkeit, Party.

Das Sicherheitspersonal am Eingang ist die Google-Einheit der Bibliothek: Wo sind die Körbe, Schließfächer, Toiletten, Ausleihe, Schlafplätze? Wo bekomme ich Bier? Kann ich auf der Wiese im Innenhof grillen? Wo kann ich etwas Holzkohle bekommen? Gibt es Bücher, die sie nicht mehr brauchen, die ich als Filibuster verwenden kann? Können Sie mir helfen, dieses Eichhörnchen zu fangen?

Häufigste Fragen im Lesesaal: Wo ist eigentlich der Lesesaal? Wie komme ich in den 1. Stock (der nicht zugänglich ist)? Kann es sein, dass ich mit meinem Feuerzeug die AGB in die Luft sprengen werde?

***

16:32 Wieviel Heimat brauchen Sie?

Ist die Ehe für Sie noch ein Problem?

Haben Sie schon Auswanderung erwogen?

***

Oberflächenphänomene V – Medley aus dem Tip 2017

Flughafenscherben 2030 das Rollfeld ausradiert

reloaded dort wo Musik war werden bei Berlin

fünf Buchstaben eingespart – also Postwachstum

oder Prä-Freedom Stolperstein mit Umsatzplus

wer kann, beherbergt sie alle

denn sie haben nur ein Leben

aus den Konservendosen eines Start-ups

erwächst meistens etwas Gutes

Klick it like John F. Kennedy

türkischstämmige Weddinger Mädchen

im party-zipativen Theater der Liebe

steht meist nicht mehr als ein Bundestag voll neuer Helden

***

17:07 Sammelphase: Abgeschlossen

Derzeit: G13-Textbearbeitung

(Bonbons gibt’s trotzdem)

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[hobbykünstler eines hobbymobiles]

als ein hobbygärtner
dessen hobbymäßig
angebaute sträucher
spätem frost zum opfer fielen
eines tages just dieselben beeren
die die sträucher
hätten tragen sollen
einzeln abgerundet
in der plastikbox als nahrung trug
schlug sein kollege vor
dieselben beeren
mittels schnüren
von den kahlen dafür
umso drahtigeren ästen
jener sträucher
hängen zu lassen

würde er vermittels dieses vorschlags
nicht zum hobbykünstler
eines hobbymobiles
und was das hieße
einen der lebendigen natur entrissenen
vertreter jenes strauchtums
lang bevor er ihr als tote
doch organische materie
zurückgegeben werden könnte
auf die künstlichste der arten
mit den eigenen erzeugnissen
die diesem vorenthalten bleiben
auszuschmücken

mit den beeren die uns unabhängig
von des strauches schicksal
zur verfügung stehen
und mit schnüren
die den modus der behängung
ganz im gegensatz
zu der natürlichen besetzung
allzu deutlich
mit der schwerkraft
richtung boden streichen
sodass überhaupt von einem mobile
die rede sein kann

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herbst in nanjing

dies ist die südlichere hauptstadt, die hauptstadt, die keine mehr ist. ihr regierungspalast ist nicht europäisch. ihr regierungspalast ist so europäisch wie eine  kolonialvilla. ihr regierungspalast kann für 40¥ besichtigt werden, und dann bleibt man  den ganzen tag. die regierung blieb bis zum winter 1937. als sie ging, wurden die stadttore versperrt. in den nächsten sechs wochen tötete die japanische armee 400.000  zivilisten. in den nächsten vier wochen vergewaltigte die japanische armee 20.000  frauen. die stadtmauer steht noch, sie kann für 20¥ besichtigt werden, und dann bleibt  man den ganzen tag. es ist die einzige komplett erhaltene stadtmauer in china. ich habe das nicht gewusst.

im wulongtan-park klebt die hitze. alles könnte sehr neu oder sehr alt sein, der  unterschied will sich nicht einstellen. ich schreibe briefe an t., der neben mir im schatten  liegt. ich schreibe briefe an c., der sie in einer europäischen kleinstadt liest, das heißt: ich  schreibe briefe in die vergangenheit. l. sagt, das liegt daran, dass hier alles gleichzeitig  passiert; dass die gegenwart eine auf 350km/h beschleunigte gleichzeitigkeit ist.

genau das ist das problem, sagt b., und greift nach ihrem bier: wir haben keine zeit zum  nachdenken. meine studenten brauchen 30 jahre um zu merken, was sie eigentlich  wollen, und dann haben sie schon das gemacht, was alle anderen tun. was wir dringend  brauchen, sagt b., ist individualismus. sie meint damit etwas anderes als ich.

x. sagt, der individualismus wird kommen, es dauert nur noch ein bisschen.

h. sagt, er muss in letzter zeit ständig an die 70er denken, es fühlt sich an, als kämen die  70er zurück, und ich frage mich, was würde ich alles nicht für selbstverständlich halten,  wenn ich die generation meiner eltern wäre, oder die generation davor, wofür würde ich  mehr kämpfen, wovor hätte ich mehr angst. in den 70ern gab es keine presse, nur  regierungszeitungen, sagt h. vor drei monaten hat er seinen job als chefredakteur  aufgegeben und eine pr-agentur gegründet.

dies ist nicht die stadt der schwalben. es ist die stadt, die man vergessen hat. vergessen:  wàngjì, wörtlich: vergessen, sich etwas zu merken. natürlich, man kann das auch anders  sagen. dies ist kein gedicht über den zu kurz gedachten zusammenhang von sprache und  denken. dies ist im besten fall: ein loch im papier, das groß genug ist, um durchzuwollen.  groß genug, um die fische dahinter schwimmen zu sehen. die pokémon.

also alles sammeln, weil alles verschwinden wird: die ingwerscheiben und die  muskatbrühe, die 20x20cm großen gehwegplatten, je ein kreis, vier schwünge und  sechzehn quadrate am rand – ein auge mit sehr viel schlaf in den ecken. den nudelstand  und den pfannkuchenstand, den mann vom mobilen schlüsseldienst, der am straßenrand seine zeitung liest, einen wasserschlauch im garten der universität. die fetten, schlafenden campus-katzen, radios, lautsprecherdurchsagen, ein auto-alarm, der sich in den platanen verfängt, rote bänder in den ästen und fahrräder, lastenräder,  zìxíngchē. liùshí niándàii de zìxíngchē, sagt s., fahrräder wie aus den 60ern: wo immer sie hinfahren, fahren sie durch staubiges nachmittagslicht.

nostalgie, sagt s.: eine hitze, in der sich alles verschläft, schwer wird und an wichtigkeit  verliert. die straßen gehen an hügeln entlang, an etwas vertraut mediterranem. in  nanjing denke ich zuerst an italien und dann an etwas, das ich nicht mehr vergleichen  muss, um es gern zu haben.

in nanjing sehe ich eine armut, die wie müdigkeit aussieht, eine armut, die alles verkauft,  dessen sie habhaft werden kann, dinge, von denen ich nicht wusste, dass man sie  verkaufen kann, eine armut, die riesige plastiksäcke mit sich herumträgt, eine armut,  von der ich nicht weiß, wo sie schläft.

in nanjing sehe ich platanen, wo immer ich hinkomme, die meisten davon wurden  gepflanzt, bevor die regierung ging. nanjing ist eine stadt aus platanen, eine stadt aus parks und seen, deren große glücksgeschichte noch nicht geschrieben ist. in nanjing gibt  es ein beständiges sägen, das keines ist, ein schubsen heiserer zirper vom ast. wenn ich  vorbeikomme, dimmen die grillen kurz ihre lautstärke. als ob sie ihnen peinlich sei.

dieses land ist kompliziert, sagt b. schwer zu sagen, ob das gut oder schlecht ist, es ist auf  jeden fall interessant. keine ahnung, was in zwei jahren sein wird; ich weiß ja kaum noch, wie es vor zwei jahren war.

also alles sammeln, weil alles verschwinden wird: sonnenschirme, tomaten mit  zuckerguss, die kneipenmeile hinter dem campus, den xuanwu-see, wenn man von der  stadtmauer herunterschaut, die regattastrecke der ruderboote – winzige nadeln  zwischen den inseln, dicken blumenkohlköpfen im see. y. sagt, nach der schule sei sie  hierhergekommen, wenn sie allein sein wollte. y. sagt, ich soll mehr trinken, duō hē diǎn,  und das sagen alle. gekochtes wasser, kāishuǐ: geöffnetes wasser.  y. sagt, alle warten darauf, dass die immobilienblase platzt; y. sagt, sie weiß noch nicht,  ob sie dann wieder nach berlin geht. als y. zum ersten mal nach berlin ging, dauerte es  zwei monate, bis die mauer fiel. 1989, das war ein furchtbares jahr für china, sagt y., ich  bin danach lange nicht mehr zurückgekommen. während ich sie ins herz schließe, frage ich mich, was ich eigentlich von ihr hören will. y. arbeitet für den staat. y. sagt, sie hat keine lust mehr auf auswärtige kulturpolitik, die nur aus kalligraphie-kursen besteht; y. sagt, china ist komplizierter als das. ja, sage ich, und darum ist es ja so interessant. y. lächelt müde.

und unter uns liegt der see, liegt die ruhe einer stadt, die man vergessen hat, auf  chinesisch: die ruhe einer stadt, an die man vergessen hat, sich zu erinnern; die ruhe  einer seit den 50er jahren irgendwie übersehenen stadt; die ruhe einer stadt mit 8 millionen einwohnern.

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die schreibmaschine ist ein schöner hund in passform

an der schwarzen donau wächst
im rücken die see, spannen häuser

die grauen weinberge, die ersten
siebenundsechzigtausend sind verprasst

auch wenn der regen etwas übriglässt,
liegen die gärten auf sohlen

keiner kann was gegen die verhaftung,
schüttelt sich der kopf mit halden

ein bote gönnt sich einen eigenen schrei,
fahrradgleich zum sprung beflügelt

in passform ist die schreibmaschine
ein schöner hund, der wächst mit haaren

als hätte er in neunundreißig büchern gelesen
über der verteilung der suppe, in kneipen

morgens sechzehn stunden warten auf die nächste reklame
hängt der ringfinger ohne takt

redeten die toten immerzu, wie ich hörten
sie mailinglisten stets zu fuß.

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F13 in Wien, PlatzDa!

Man trifft auf Vorläufer, Copycats und Trittbrettfahrer von G13 an allen möglichen Orten. Diesmal erreichte uns eine anonyme Einsendung aus Wien: F13, PlatzDa! Weiß jemand Genaueres?

(Foto: privat)

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Gedichte lesen: 20 Strategien. Eine Anleitung für Ratlose

Fast jeder hat schon einmal ratlos vor einem Gedicht gestanden. Gedichte können uns emotional oder intellektuell berühren, aber mindestens genauso wahrscheinlich ist es, dass sie uns abschrecken. Wenn sie nicht zufällig von einem Promi vorgetragen, als Songtexte vertont, von Visuals begleitet oder von unseren eigenen Kindern verfasst werden, sind Gedichte ausgesprochen schlecht darin, sich zu verkaufen. All diese abgebrochenen Zeilen und affektierten weißen Ränder auf dem Papier – als dürfte man sie nur mit der getragenen Feierlichkeit behandeln, mit der man ein Kunstwerk im Museum bestaunt: Anschauen erlaubt, aber bitte nicht näherkommen – und auf keinen Fall anfassen.

Aber was, wenn die hohe Kunst des Gedichte Lesens am Ende gar nicht so hoch ist? Was, wenn das eigentliche Problem mit Gedichten unsere gutgemeinten, aber falschen Annahmen davon sind, wie man sie lesen soll?

Hier sind zwanzig bescheidene Vorschläge zum Überdenken der seltsamen Tätigkeit des Lyriklesens.

  1. Verabschiede dich von der Vorstellung, dass ein Gedicht dein Leben radikal verändern wird. Dein Leben ändert sich ständig; meistens bist du einfach nur zu beschäftigt, um dieser Veränderung Aufmerksamkeit zu schenken. Gedichte verlangen Aufmerksamkeit – das ist alles.
  1. Wenn du ein Gedicht liest – besonders ein Gedicht, das nicht zum Vortragen gedacht ist – dann lies es unbedingt laut. (Vergiss, was man dir in der Grundschule beigebracht hat – dass du leise lesen sollst, um die anderen nicht zu stören.) Dein Ohr wird mehr verstehen als dein Kopf zulässt. Das heißt: Dein Ohr wird deinem Verstand sagen, was er denkt.
  1. Wenn du einem Gedicht begegnest, dann versuch, seine Bedingungen zu akzeptieren anstatt deine Bedingungen durchzusetzen. Wenn du dich mit einem Gedicht „identifizieren“ musst, um es zu verstehen, dann liest du es nicht richtig. Anders gesagt: Versuch, das Gedicht nicht auf dein Leben zu beziehen. Versuch zu sehen, welche Welt das Gedicht entstehen lässt. Mit etwas Glück wird es dich dann deine eigene Welt neu sehen lassen.
  1. Wenn man ein Gedicht liest, ist man (bewusst oder unbewusst) permanent auf der Suche nach einer Ausrede, um das Gedicht beiseite zu legen, ein neues Gedicht anzufangen oder etwas ganz anderes zu tun. Widersteh diesem Drang, so gut es geht. Stell es dir vor, als seist du ein Buddhist, der eine hartnäckige Mücke betrachtet. Die Mücke – und das Gedicht – können nervtötend sein, aber es wird dich nicht umbringen, sie noch ein bisschen länger auszuhalten.
  1. Man wird dir erzählen, dass es zwei Sorten von Gedichten gibt: das „zugängliche Gedicht“, dessen Absicht und Bedeutung einfach zu verstehen sind, und das „schwierige Gedicht“, dessen Absicht und Bedeutung nur schwer zu verstehen sind. Du kannst selbst entscheiden, wieviel Arbeit du investieren willst.
  1. Wenn du ein Wort nicht kennst, dann schlag es nach oder stirb.
  1. Ein Gedicht kann man nicht anders oder einfacher ausdrücken. Tatsächlich ist seine größte Stärke das Gegenteil von einfacher Erklärung: nämlich Mehrdeutigkeit. Mehrdeutigkeit ist das, was uns als Menschen wesentlich ausmacht: Wir wissen nie, was im jeweils nächsten Moment passieren wird, verhalten uns aber immer so, als ob wir das genau wüssten.
  1. Ein Gedicht hat keine versteckte Bedeutung, sondern nur „Bedeutungen“, die direkt vor deiner Nase liegen – du hast sie bloß noch nicht bemerkt. Feinheiten zu erkennen braucht Übung. Lyrik zu lesen ist eine Konvention, genauso wie alles andere. Und du lernst die Regeln dafür genauso wie die Regeln für alles andere – genauso, wie du zum Beispiel lernst, ein Auto zu fahren oder einen Kuchen zu backen.
  1. Es klingt unmöglich, aber trenne die Autorin von der Sprecherin in ihrem Gedicht. Ein Autor oder eine Autorin trägt immer eine Maske (die ursprüngliche Bedeutung des Wortes persona), selbst dann, wenn sie sich nicht explizit darum bemüht. Wenn du Autor und Sprecher gleichsetzt, sprichst du dem Gedicht jegliche Imagination ab, die über das unmittelbare Leben der Autorin hinausgeht.
  1. Wenn du auf ein Gedicht triffst, das „ironisch“ wirkt, dann stelle sicher, dass es sich nicht bloß um den Sarkasmus des Sprechers oder deine eigene Skepsis handelt.
  1. Etwas „zum Vergnügen zu lesen“ impliziert, es gäbe ein „Lesen zum Missvergnügen“ oder ein „Lesen zur Strafe“. Jedes Lesen sollte lustvoll sein: Ähnlich wie Sex kann es mal mehr, mal weniger Lust bereiten, aber am Ende geht es eben auch nicht nur um Lust.
  1. Ein Gedicht kann sich anfühlen wie ein verschlossener Safe, der seine eigene Zahlenkombination in sich verschließt. Mit anderen Worten: Es ist völlig okay, wenn du ein Gedicht nicht verstehst. Manche Gedichte muss man dutzende Male lesen, bevor man auch nur den Hauch eines Verständnisses entwickelt. Und manchmal kommt das Verständnis nie. So ist das im Leben: Verwirrung und Verwunderung überwiegen zumeist.
  1. Benutze Randbemerkungen. Lesen, ohne etwas an den Rand zu schreiben, ist wie Gehen, ohne die Arme zu bewegen. Man kann das machen, und man kann so auch ans Ziel kommen, aber es wird sich immer anfühlen, als ob man etwas Essentielles dabei vergessen hätte.
  1. Es gibt eigentlich nichts zu verlieren, wenn man Gedichte liest. Wenn man sie nicht versteht, verliert man kaum Zeit oder Energie. Umgekehrt kann man potenziell eine ganze Menge gewinnen – einen neuen Gedanken, einen alten Gedanken, den man plötzlich neu sieht, oder auch nur einen Augenblick außerhalb all der anderen, komplett strukturierten Augenblicke unserer Zeit.
  1. Lyrik basiert auf Mustern und Variationen – selbst nicht-lineare, nicht-narrative, anti-lyrische Lyrik. Indem es Muster und Variationen dieser Muster wahrnimmt, versucht dein Gehirn, Ordnung in das scheinbare Chaos zu bringen. „Glockenspiel“, „Kaulquappe“ und „Gerechtigkeit“ haben vordergründig nichts miteinander zu tun, und trotzdem versucht dein Gehirn sofort, sie irgendwie zusammenzubringen, einfach deshalb, weil sie da sind, um verstanden zu werden.
  1. Gleichzeitig mit deiner Fähigkeit, Gedichte zu lesen, wird auch deine Fähigkeit steigen, Nachrichten, Romane, Gesetzestexte oder Werbung zu lesen. Vor ein paar Jahren konnte man auf einem Starbucks-Poster lesen: Freunde sind wie Schneeflocken… jede ist einzigartig. Wie wahr. Aber ist Schnee nicht auch kalt und vergänglich? Hoffen wir, dass das auf unsere Freunde nicht zutrifft.
  1. Beim Gedichte lesen geht es nicht nur darum, Gedichte zu lesen. Ihre angeblich hermetische Stilisierung von Satzbau und Wortwahl wird dich aufmerksamer für die Welt um dich herum machen; das gilt auch für Dinge, die nicht direkt mit Sprache zu tun haben. Ein Kleid, ein Gebäude, der Nachthimmel – sie alle beinhalten Systeme der Mustererkennung und Fortschreibung.
  1. Die allerbeste Art, ein Gedicht zu lesen, besteht möglicherweise darin, jung, intelligent, und leicht angetrunken zu sein. Es besteht allerdings kein Zweifel, dass Gedichte, die man im Alter liest, den Wunsch hervorrufen, man hätte in seiner Jugend mehr Gedichte gelesen.
  1. Eines Tages, wenn all deine materiellen Besitztümer ihren Nutzen verloren haben und nichts weiter als Hindernisse auf dem Weg zum Klo sind, werden Gedichte ihren Wert behalten. Sie sind Räume, die so wenig Raum einnehmen. Ein Gedicht, das man auswendig kann – ein, zwei Zeilen nur – ist halb innerer Schmuck, halb lebensrettende Fähigkeit: wie die beste Technik, um einen Taschendieb in den Schwitzkasten zu nehmen, oder um eine Mango auf-, ohne sich selbst dabei in die Hand zu schneiden.
  1. Ein Gedicht zu lesen liefert keinen Gesprächsstoff. Es bringt dich zum Schweigen. Ein Gedicht zu lesen führt an die Grenzen. Es bereitet dich auf die Stille vor, die uns alle ratlos macht: den Tod.

Aus: Mark Yakich: Poetry. A Survivor’s Guide. New York: Bloomsbury, 2016. Ins Deutsche übertragen von Lea Schneider. Publiziert mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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[butterbüchse panoramablick]

butterbüchse panoramablick
man hält in händen, wendet sie
und sieht wie welt sich dreht
wenn das motiv sich wiederholt
dieselbe kuh zum zweiten mal
auf ihrer weide steht

farben zwischen gut und böse
es gibt grün und blau
die weide und das meer

zwei daseinsformen einer welt
beginnen gerade an der kante
der büchse zu fingers spitzen

das design ist ernst gemeint
von wo als seinem frühstückstisch
wünscht man sich weiter weg

butterbüchse panoramablick
man hält in händen, wendet sie
und sieht wie welt sich dreht
wenn das motiv sich wiederholt
dieselbe kuh zum zweiten mal
auf ihrer weide steht

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artiCHOKE Lesung diesen Samstag 17.12.

artichoke-7-invite-2Die letzte artiCHOKE Lesung 2016. Hope/hoffe – to see you/euch da – there/zu sehen!
mit: LISA ROBERTSON (CAN)  |  ELKE ERB (DE)  |  FRANCESCA LISETTE (UK)

17.12.2016 | 19Uhr Einlass | 20Uhr Beginn
Free Entry  |  Soup: 3€
@ Vierte Welt
Kottbusser Tor, Zentrum Kreuzberg, Galerie 1. OG
(die Treppe hoch zum Café Kotti, dann rechts weiter weiter ganz bis zum Ende)

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